Seiten

Sonntag, 25. Dezember 2016

219

Es ist eine alte abendländischer Annahme, man müsse anderen Menschen nur gute Gründe nennen – dann würden sie das Richtige und Gute schon tun. Aber der Mensch ist kompliziert. Was er tun kann, hängt nicht nur an seinen Gründen, sondern auch an seiner Natur und an seinen Prägungen. Es gehört viel Freiheit von den eigenen Gründen, der eigenen Natur und den eigenen Prägungen dazu, das Richtige und Gute tun zu können. Und es gehört viel Freiheit von den eigenen Gründen, der eigenen Natur und den eigenen Prägungen dazu, den Anderen anzunehmen und für ihn da zu sein, auch wenn er das vermeintlich Richtige und Gute nicht tut, nicht tun kann. Diese Freiheit wünsche ich allen, die hier gelegentlich vorbeischauen: die Freiheit der Weihnacht.

Mittwoch, 21. Dezember 2016

218

In einer Spiegel-Kolumne ist gestern Abend zu lesen, Weihnachten dürfe nach Berlin nicht ausfallen. Jetzt sei es wichtig, nach Hause zu fahren, gemeinsam mit der Familie zu diskutieren und zu trauern – und sich auf die Werte zu besinnen, für die dieses Fest stehe. Im Sinn hat die Autorin dabei Werte wie Demokratie, Offenheit und Menschlichkeit – also einige magere Säkularisate der christlichen Religion.
Kann man Weihnachten eigentlich auch reservativ feiern? Durchaus, auch und gerade jetzt, auch und gerade nach Berlin. Ein reservativ begriffenes Weihnachtsfest ist allerdings kein Fest der Werte. Es ist ein Fest der Freiheit von Werten, und es ist ein Fest der Freiheit von Angriffen auf Werte. Es ist ein Fest der Freiheit von Wohlstand und Armut, von Segen und Fluch zugleich. Es ist ein messianisches Fest der Freiheit von der Weltwirklichkeit, ein Fest der Erinnerung daran, dass die Weltwirklichkeit nicht die Heimat des reservativ Glaubenden ist. Zu diesem Fest sind Geschenke nicht unpassend. Aber vielleicht lassen sich ja Geschenke finden, die nicht zusätzlich an die Weltwirklichkeit binden, sondern die als reservatives Symbol dienen, als Erinnerung an die geglaubte Freiheit.

Dienstag, 20. Dezember 2016

217

Die Ereignisse von Berlin am gestrigen Abend haben mich noch einmal an eine beliebte Parole meiner Schulzeit erinnert: „Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Eine ebenso beliebte Entgegnung war: „Dann kommt der Krieg zu Dir.“ Das ist unsere kommende Realität. Und gerade in Deutschland sind wir weder interpretatorisch noch lebenspraktisch darauf vorbereitet.

Mittwoch, 14. Dezember 2016

216

Es gibt eine Weisheit des Alters, die weiß nichts davon, dass ihre Weisheit eine Erscheinungsform von Müdigkeit, von Schwäche ist.

215

Angst ist kein guter Berater von Aufklärung. Naivität auch nicht. Es gibt allerdings eine gelehrte Angst, auch eine gelehrte Naivität, die im Gewand der Aufklärung auftreten.

Dienstag, 6. Dezember 2016

214

Gestern Abend haben wir mit einer unserer Töchter mehr als drei Stunden in der Notaufnahme eines Münchener Klinikums verbracht – nach einer Sportverletzung, wegen einer einfachen Röntgenaufnahme.

Montag, 5. Dezember 2016

213

Der Wille des Einzelnen als eigener ist unterbunden und diskreditiert durch das Allgemeine (Gesetz) – es sei Tugend, Pflicht, Nutzen, Wert oder was auch immer. Wer seinen Willen einem Allgemeinen unterwirft, der kann nicht zugleich das Einzelne als eigenes wollen, der tritt als Einzelner zurück, der will tatsächlich nicht selbst. Menschen des Allgemeinen sind in dem, was sie wollen, nie selbst präsent, und das jeweils Gewollte ist nie das selbst gewollte. Menschen des Allgemeinen handhabt man daher am besten mit größter Vorsicht und Zurückhaltung.
Die praktische Frage des Allgemeinen ist: Was soll ich tun? Selbst Kant entgeht: Das ist (nach wie vor) die Frage des Unmündigen. Die Frage des mündigen Einzelnen ist: Was will ich tun? Die Ermöglichung und Rehabilitation des einzelnen Willens setzt die Überwindung des Allgemeinen, die Überwindung allgemeiner Systeme der Unmündigkeit voraus.

212

In der Erziehung vor allem auf Entzauberung zu setzen, ist ein unangenehmes und oft unerfreuliches Geschäft. Alles andere wäre jedoch eine künstliche Erschwernis und Verlängerung des Weges zur Freiheit.

Freitag, 25. November 2016

211

Schreiben ist ein merkwürdiger Prozess. Wenn ein Satz nach unzähligen Basteleien das trifft, was er treffen soll, wenn ihm die Kraft innewohnt, die ich mir von ihm erhofft habe, dann ist völlig unklar, ob sich in diesem Satz etwas aufklärend ausdrückt, was zuvor bereits in mir verborgen angelegt war, oder ob dieser Satz selbst etwas in mich hineinlegt, was zuvor noch gar nicht da war. Schreiben ist also ein nicht zu entschlüsselndes Ineinander von Selbstausdruck und Selbstaufklärung.

Donnerstag, 24. November 2016

210

In der philosophischen Auseinandersetzung, in die ich mich gerade denkend zurückgezogen habe, spüre ich noch einmal deutlich meine Grenzen. Ich bin nicht vom Fach. Philosophisch bin ich ein Autodidakt, gerade so, wie ich theologisch ein Autodidakt bin. Das erlebe ich immer als Risiko, aber auch immer als Chance. Ich laufe fortwährend Gefahr, mich lächerlich zu machen. Ich bin aber auch unbeschwerter bereit, die alte Furche zu verlassen und ein Neues zu pflügen.

Dienstag, 15. November 2016

209

Wer einen Eindruck davon gewinnen will, was Jean-Luc Nancy mit der Behauptung meinen könnte, das Christentum erfülle sich im Nihilismus und als Nihilismus, der muss sich ein wenig in der Emerging-Church-Bewegung (Emergent-Bewegung) umschauen. Man versteht sich hier als christliche Antwort auf die Postmoderne, behauptet eine Wiederentdeckung und Wiederbelebung des wahren Christentums unter postmodernen Vorzeichen und Bedingungen. Tatsächlich aber ist die Emergent-Bewegung nicht mehr als ein Symptom des christlich provozierten Nihilismus. Da ist nichts Neues (wieder-)angeeignet, da ist lediglich etwas falsch verstanden, oder besser: nach wie vor hilflos uminterpretiert worden.

208

Während wir die Macht über unser Unvermögen verlieren, nimmt zugleich die Vermögens-Zumutung, der Vermögens-Druck zu. Beispiel: gymnasialer Unterricht. Hier beobachte ich in den vergangenen Jahren unter anderem zwei Bewegungen.

Montag, 14. November 2016

207

Von unserem vielfältig bedingten Unvermögen psychischer, physischer oder anderer Art geht eine verborgene subversive Macht aus, die weitaus größer ist als die Macht, die wir mit unserem Vermögen je ausüben könnten.

Freitag, 11. November 2016

206

Donald Trump wird Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Für mich ist diese Wahl vor allem ein Symptom dafür, dass nicht wenige Menschen, vermutlich sogar die überwiegende Mehrheit, auch künftig Schließungen brauchen werden. Trump ist Ausdruck der Sehnsucht, des Bedürfnisses nach Schließung, nach Abschließung gegenüber der zunehmenden, überfordernd verunsichernden Gleich-Gültigkeit durch Rekurs und Rückzug auf eine verlässliche, gemeinsame, verbindende Gültigkeit.

Sonntag, 6. November 2016

205

Auch die Schwachheit kann sich, ähnlich wie die Dummheit, repräsentativ wenden. Dann übt der Schwache, ähnlich wie der Dumme, auf seine ganz eigentümliche Weise Macht aus. Schwachheit reservativ zu handhaben, ist, wie die reservative Handhabung der Dummheit, eine besonders knifflige Aufgabe. Sie wird schier unlösbar, wenn Schwachheit und Dummheit sich paaren.

Samstag, 5. November 2016

204

Ich arbeite gerade an einem Essay zur Kritik des Liberalismus. Wenn man die hintergründigen, oft unbewussten Funktionalitäten, in die uns unser gegenwärtiges politisches, soziales und ökonomisches System hineinzwingt, einmal rücksichtslos ans Tageslicht zerrt, dann erscheint es geradezu lächerlich, dieses System als freiheitlich zu bezeichnen. Und es erscheint zunächst verwunderlich, dass dieses System so beeindruckend funktionstüchtig ist, dass wir selbst bereit sind, seine Funktionstüchtigkeit zu gewährleisten. Allerdings: Es belohnt uns ja auch mit unzähligen Annehmlichkeiten. Es bedient also unsere eigenen Funktionen und wirkt damit wie ein Betäubungsmittel.

Samstag, 29. Oktober 2016

203

Reservative Interpretation ist wie der Schutzschild des Raumschiffs Enterprise. Jeder auch bloß partielle Versuch, sich noch einmal auf die Weltwirklichkeit einzulassen, ihr noch einmal Vertrauen zu schenken, deaktiviert den Schild. Mit gutem Grund ist Paulus in seiner Forderung so radikal - möglichst keine Bindung eingehen, die zu einer Deaktivierung des Schilds zwingt: "Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid" (1 Kor 7,32).

Freitag, 28. Oktober 2016

202

Gerade auch in der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Existenz erscheint mir immer wieder fraglich, ob reservative Interpretation, ob reservativer Glaube langfristig auch die tieferen Schichten unseres Bewusstseins zu erreichen vermag, ob auch die im Unbewussten brodelnden und bisweilen geradezu physisch hochkochenden Ängste, die uns zu dominieren versuchen, reservativ erreicht und zur Ruhe gebracht werden können.

201

Carolin Emcke, die aktuelle Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass repräsentatives Denken immer sehr viel zu tun hat mit (natürlicher) Disposition und Konstitution des Denkenden im Verhältnis zum jeweiligen Kontext. Also: Jeder entwickelt sich, denkend aber unbewusst, in jene theoretische Position hinein, die ihm gemäß ist und von der er sich in seinem Kontext die meisten Vorteile verspricht. Repräsentatives Denken geht sich immer nur selbst in die Falle.

Mittwoch, 26. Oktober 2016

200

Bonhoeffers Versuch, ein religionsloses Christentum zu entwerfen, setzt ein mit einem zögerlichen Akt der Uminterpretation: „Ich arbeite mich erst allmählich an die nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe heran. Ich sehe mehr die Aufgabe, als daß ich sie schon zu lösen vermöchte.“

Dienstag, 25. Oktober 2016

199

Momentan schleiche ich hier im Blog, ratlos und furchtsam zugleich, um die erschütternde paulinische Frage herum: um die Frage der Sagbarkeit des Unsagbaren, der Verbegrifflichung dessen, was jeden Begriff verungültigt. Wie reservativ interpretieren mit dem Instrumentarium der Repräsentation (ein anderes steht nicht oder noch nicht zur Verfügung)? Paulus ist das Wagnis der Reservation mit repräsentativen Mitteln eingegangen. Aber dieses Wagnis ist bloß ein Stammeln, ein Stottern in zahllosen Anläufen, das in jüngster Zeit noch einmal eindrücklich wahrnehmbar gemacht worden ist durch Christian Lehnerts Korinthische Brocken. Und das paulinische Wagnis ist gescheitert. Sein Scheitern nennen wir Christentum. Das bereitet mir Sorge.

198

Kaum etwas ist so schmerzhaft, wie die denkende Auseinandersetzung mit der Existenz, wie existenzielles Denken. Weil sie diesem Schmerz aus dem Weg gehen, kommen repräsentative Interpretationen und Systementwürfe immer so leichtfüßig und beeindruckend daher.

197

Wir können nur in einer Wirklichkeit präsent sein. Jede Repräsentation verhindert die Präsenz. Das ist es, was an Jesus fasziniert: Er ist nicht Repräsentant, er repräsentiert nichts. Er ist präsent.

196

Reservative Interpretation ist auch Antwort auf die quantenphysikalische Weltanschauung, die uns im vergangenen Jahrhundert den vermeintlich so sicheren Boden der Wirklichkeitsgesetze, der Illusion möglicher Herrschaft über Wirklichkeit durch Gesetz entzogen hat.

Montag, 24. Oktober 2016

195

Beschäftige mich nebenbei, aus schulischen Gründen, noch einmal ein wenig mit Platon. Es darf nicht vergessen werden, dass das frühe Großchristentum auch und gerade in der Auseinandersetzung mit neu-platonischen Strömungen entstanden ist. Viele Symbole des Christentums sind platonisch-repräsentativer Herkunft.
Gestern habe ich einer unbewusst platonisierenden Predigt über einen Paulus-Text lauschen müssen. Derartige Verkehrungen der paulinischen Intention sind für mich immer besonders herausfordernd, aber sie sind durchaus möglich. Allerdings kommt man eigentlich in jedem paulinischen Text an einen Punkt, an dem die repräsentative Interpretation abbrechen muss. Doch anstatt sich dieser Irritation ernsthaft auszusetzen, fliehen die Interpreten zumeist in irgendeine repräsentative Zirkularität.

Sonntag, 23. Oktober 2016

194

Das Christentum ist nichts anderes als der höchst erfolgreiche Versuch, die messianische Ungültigkeitsinterpretation zu popularisieren.

Samstag, 22. Oktober 2016

193

Habe heute an der Regionalchorprobe zur Vorbereitung der Aufführung des Luther-Oratoriums in der Münchener Olympia-Halle im März 2017 teilgenommen. In der Probenpause habe ich einen echten Verkaufsschlager erstanden – die Luther-Figur von Playmobil. Das kleine schwarze Männlein wird künftig meinen Schreibtisch zieren.
Die Teilnahme an dem Chorprojekt und der Spielzeug-Luther sind für mich noch einmal Erinnerung und Mahnung: Jede Popularisierung einer (repräsentativen) Interpretation bedeutet deren unkontrollierbare Verzerrung bis hin zur Unkenntlichkeit. Massen lassen sich zweifellos manipulieren und lenken, aber der Gang, den (repräsentative) Interpretationen nehmen, ist letztlich jedem steuernden Zugriff entzogen.

Freitag, 21. Oktober 2016

192

Je näher man hinschaut, desto deutlicher erweist sich die Verheißung des liberalen Marktes als Täuschung – dargestellt am Beispiel meiner Suche nach einem Herren-Deodorant.

191

„Sein Bedürfniß war die Macht; mit Paulus wollte nochmals der Priester zur Macht, – er konnte nur Begriffe, Lehren, Symbole brauchen, mit denen man Massen tyrannisirt, Heerden bildet“ (Nietzsche). Nietzsches Hass auf Paulus hat seine Ursache darin, dass er ihn noch ganz christlich und damit repräsentativ interpretiert. Hätte er ihn mit den Augen der Ungültigkeitsinterpretation anschauen können, so wäre ihm sicher aufgefallen, wie nahe sie sich eigentlich stehen. Auf die Nähe zwischen Nietzsche und Paulus macht Bonhoeffer in einem seiner Barcelona-Vorträge (1928) aufmerksam, indem er strukturelle Ähnlichkeiten entdeckt zwischen Nietzsches Übermenschen und dem freien Christenmenschen Luthers.

Donnerstag, 20. Oktober 2016

190

„Wer einmal die Kritik gekostet hat“, so Kant in seinen Prolegomena, „den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche, womit er vorher aus Not vorlieb nahm, weil seine Vernunft etwas bedurfte, und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung finden konnte.“

189

Bonhoeffers Ahnung einer kommenden religionslosen Zeit ist im Kern die Ahnung einer repräsentationslosen Zeit, einer Zeit, in der Repräsentationen nichts mehr repräsentieren. Seine Suche nach einem religionslosen Christentum ist im Kern die Suche nach einem repräsentationslosen Glauben, nach einer nach-repräsentativen Interpretation und Praxis.

188

In der Wüste des Realen locken unausgesetzt die ägyptischen Fleischtöpfe der Repräsentationen.

Mittwoch, 19. Oktober 2016

187

Ethik und Recht dienen nicht allein der Kontigenzbewältigung. Sie sind auch und möglicherweise vor allem Instrumente der Arterhaltung. Mit Hilfe der Ethik und des Rechts versucht der Mensch, sich in der Konfrontation mit den Bedrohungen weltwirklicher Gültigkeiten kollektiv zu behaupten. Ethik und Recht sind so gesehen, wenngleich eher mittelbar, Repräsentationen des menschlichen Anspruchs auf Überlegenheit und Hegemonie.

Anmerkung: Gegen Ethik und Recht als Erscheinungsformen menschlichen Hochmuts hilft nicht etwa die Konzeption einer „Tierethik“ oder eines „Rechts der Umwelt“. Diese Konzeptionen verbleiben sämtlich im repräsentativen und hochmütigen Schema dessen, was sie zu begrenzen versuchen.

186

Paulus bezeichnet jene als schwach im Glauben, die noch in repräsentativen (religiösen) Interpretationen und in einer repräsentativen (religiösen) Praxis gefangen sind. Schwach im Glauben ist, wer irgendetwas Weltwirkliches (z. B. bestimmte Speisen oder Getränke) für repräsentativ hält – und zwar so, dass die jeweilige Repräsentation ihn vom Gebrauch des jeweiligen Weltwirklichen abhält (Röm 14; 1 Kor 8).

185

Vorbilder sind Repräsentanten. Reservatives Leben kennt keine Vorbilder, auch keine Helden und erst recht keine Heiligen.

Dienstag, 18. Oktober 2016

184

Gestern Abend im Fernsehen: „Terror“, die verfilmte Fassung des Theaterstücks von Ferdinand von Schirach. Ein Luftwaffenpilot schießt eine mit 164 Menschen besetzte Passagiermaschine ab, um 70.000 Menschen in einem ausverkauften Fußballstadion das Leben zu retten. Nach einer inszenierten Gerichtsverhandlung soll das Fernsehpublikum über Schuld und Unschuld entscheiden. Knapp 87 % der Deutschen plädieren für Freispruch, in Österreich und der Schweiz fällt das Ergebnis ähnlich deutlich aus.

Montag, 17. Oktober 2016

183

Reservative Interpretation legt eine dünne und verletzliche Schutzschicht zwischen das schwache und angefochtene als ob nicht Ich des Ungültigkeitsglaubens und das dominante repräsentative Ich natürlich oder ideologisch induzierter Selbstvergültigung. Der Rest ist Kampf.

182

In seiner Theologischen Ethik wirft Helmut Thielicke die Frage auf, ob man andere Menschen gewissermaßen beim Schopfe ihrer je eigenen Gültigkeiten packen könne, auch wenn man selbst diese Gültigkeiten nicht anerkenne.

Freitag, 14. Oktober 2016

181

Mich bedrückt, dass sich in den Jahren nach der Aufklärung, die ich zwischen 2005 und 2007 durch Bonhoeffer erfahren habe, in meinen wissenschaftlichen Texten nach wie vor repräsentative Begriffe und repräsentative Interpretationen finden lassen (etwa rund um den Begriff des Aufhalters, den ich gegen Carl Schmitt und mit Bonhoeffer neu fruchtbar zu machen versucht habe). Das Problem der Religion und der Metaphysik war mir bereits bewusst, das deutlich tiefer reichende Problem der Repräsentation dagegen noch nicht.

180

Buddhistische Interpretation der Weltwirklichkeit, die Anschauung der tragischen Verschlungenheit von Ursache und Wirkung, hat in diagnostischer Hinsicht viel Aufschlussreiches zu bieten. Dann aber schlägt sie um in eine Erscheinungsform negativer Repräsentation, in den Versuch, durch spezifische Disziplinierungstechniken eine Idee von wirklichkeitsnegierender Anders-Wirklichkeit im Weltwirklichen zu repräsentieren und dabei der negativen Identität so nahe wie möglich zu kommen.

Donnerstag, 13. Oktober 2016

179

Messianisches Leiden bereitet nicht vor auf den Trost durch Repräsentationen. Es bereitet vor auf den Trost durch die Unabhängigkeit von Repräsentationen (2 Kor 1,5).

178

Was man gedacht hat, eben das denkt man hernach wieder, und es wird nichts Neues gedacht unter der Sonne (Koh 1,9). Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb: Denken ist Gebrauch, nicht Gehorsam.

177

Physische und psychische Disposition, kulturelle und soziale Herkunft, familialer Kontext und Widerfahrnisse im weitesten Sinne – das sind, grob gefasst, die Zutaten des Gebräus unserer Existenz. Der merkwürdige Überschuss dieser Existenz, den wir Bewusstsein oder auch Vernunft nennen, muss dieses Gebräu irgendwie zu handhaben versuchen, ist jedoch zugleich wesentlich mit diesem verbunden, ist gewissermaßen dessen repräsentativer Ausfluss. Jeder Versuch der vernünftigen Selbsthandhabung ist so gesehen nicht Selbstbestimmung, sondern bloß ein Rühren im Gebräu. Repräsentation leistet nicht das, was Freiheit genannt werden kann.

176

Wer prägen will, muss beharrlich und kräftig belasten. Wer nachgiebig oder schwach wird, wer ungeduldig oder neugierig das Ergebnis vorzeitig anschauen will, der verwischt oder zerstört den Abdruck.
Reservative (Um-) Prägung beginnt mit Entzauberung. Die Wahrheit, die anzuerkennen wir heute genötigt sind, ist diese: Alle Repräsentationen sind entzaubert (nichts anderes meint Nihilismus). Und doch gelingt es uns nach wie vor, dieser Wahrheit auszuweichen, sie ideologisch oder wohlständig zu verschleiern. Aufgegeben ist also nach wie vor Entzauberung. Beharrlich und kräftig.

Mittwoch, 12. Oktober 2016

175

Das biblische Urbild repräsentativer Existenz ist Kain. Er tötet seinen Bruder Abel (Gen 4,8): ein Symbol der Selbstrepräsentation. Er gründet eine Stadt (Gen 4,17): ein Symbol kollektiver Repräsentation. Er wird verflucht (Gen 4,11): ein Symbol der Rastlosigkeit und Fruchtlosigkeit repräsentativer Existenz. Und er wird gekennzeichnet (Gen 4,15): ein Symbol der befristeten Duldung repräsentativen Interpretierens und Lebens – nicht, damit die Welt durch Repräsentation geheilt, sondern „damit die Sünde umso mächtiger würde“ (Röm 5,20).

Dienstag, 11. Oktober 2016

174

Kürzlich hat eine Dame, deren Bilder eines bestimmten Ereignisses ich kritisch zurückgewiesen hatte, gegenüber Dritten behauptet, sie habe mich daraufhin bewusst beleidigt.

Montag, 10. Oktober 2016

173

Repräsentation ist Sünde. Sünde ist Repräsentation. Das ist die Summe. Repräsentation ist nicht Freiheit und Macht, sondern Knechtschaft und Funktion. Das paulinische "stellet euch nicht dieser Welt gleich" (Röm 12,2) als Ruf heraus aus der Sünde ist letztlich ein Ruf heraus aus den Repräsentationen - hinein in einer radikale "Erneuerung eures Sinnes", in eine reservative Uminterpretation der Wirklichkeit in praktischer Absicht.

172

Ein weiterer Bestimmungsversuch: Repräsentativ nenne ich eine Interpretation der Wirklichkeit, die von der Gültigkeit dessen ausgeht, was ihre Begriffe, Gleichnisse, Bilder oder Symbole wiedergeben oder ergreifen wollen. Praxis dieser Interpretation meint den Versuch der Repräsentation im Sinne einer praktischen Vergültigung des als gültig angenommen. Repräsentative Praxis zielt auf Herstellung von Identität zwischen Gültigkeitsannahme und Wirklichkeit.

Freitag, 7. Oktober 2016

171

Reservation ändert nichts an der Wirklichkeit. Sie lässt lediglich die Luft aus dem übermächtigen Popanz Welt, den unser repräsentativer Zugang zur Wirklichkeit erschaffen hat. Was sich dadurch ändert, ist unsere Existenzweise in der Welt.

Donnerstag, 6. Oktober 2016

170

Karl Barth, der sich durchaus als Vollender der Reformation versteht, verbleibt mit seiner Theologie noch ganz im repräsentativen Schema – obwohl ihm der „unendliche qualitative Unterschied“ zwischen Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit, den er bei Kierkegaard vorformuliert findet, durchaus andere Perspektiven hätte eröffnen können.

169

Fehler der Paulus-Interpretation Alain Badious: Badiou universalisiert eine (letztlich beliebige) singuläre Ereigniswahrheit als Gültigkeit. Paulus dagegen universalisiert eine ganz spezifische, messianische Ereigniswahrheit als Ungültigkeit.

168

Aus dem heutigen Lehrtext der Herrnhuter Losungen: „Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen“ (1 Kor 6,12). Das ist komprimiertes paulinisches Evangelium, Kurzfassung, geradezu Kurzformel reservativen Lebens: universale Dispensation vom Gesetz der Weltwirklichkeit.

167

Der (kirchliche) Pazifismus hält neben seiner Forderung nach Gewaltfreiheit zugleich an der Forderung nach Recht und Gerechtigkeit fest - und dies im repräsentativen Sinne. Darin liegt sein unauflöslicher Selbstwiderspruch. Repräsentativer Pazifismus ist verewigte Gewaltsamkeit.

Mittwoch, 5. Oktober 2016

166

Mein wachsendes Unbehagen am Sprechen und Schreiben rührt daher, dass ich zunehmend reservativ begriffen werden will, tatsächlich aber repräsentativ begriffen werde. Unter repräsentativen Bedingungen scheine ich mich also an Diskursen zu beteiligen, die nicht meine sind. Besonders unangenehm ist es, wenn man mich dabei – was gerade in bestimmten religiösen Kontexten leicht möglich ist – für einen Gesinnungsgenossen hält.

Dienstag, 4. Oktober 2016

165

Das mosaische Bilderverbot (Ex 20, 3–5) untersagt alle Götter neben Gott. „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht“.

Montag, 3. Oktober 2016

164

Dekonstruktion ist der letzte Zugang zur Weltwirklichkeit, der noch – zu Demonstrationszwecken – viele Worte machen und ein wenig poltern kann. Danach müssen auch sprachlich Zurückhaltung und Stille einkehren. Es irritiert mich immer wieder, dass jenseits der Dekonstruktion noch (oder wieder) große und bedeutungsschwere Systementwürfe möglich sein sollen.

Freitag, 30. September 2016

163

Zu Nr. 146 (Kommentar): Der Gedanke einer Überholung und Transformation von Sein und Existenz durch die Kraft der Annahme eines als ob des Kommenden, durch die Vorwegnahme eines Kommenden in einem verlockenden als ob – ein gutes Beispiel für einen repräsentativen Zugriff auf die Weltwirklichkeit. Das ist auch der christliche Zugriff, hier mit einem Schuss Mystik.
Repräsentative Rationalität der Herrschaft, der Transformation und des Glücks – das ist die teuflische Versuchung in der Wüste des Realen (Mt 4,1-10). Auch und vor allem das Christentum ist mit seiner Rationalität dieser Versuchung erlegen.

Donnerstag, 29. September 2016

162

Reservatives Leben ist, aus repräsentativer Perspektive, grundlos, nicht-rational und unberechenbar. Das könnte den Verdacht aufkommen lassen, dieses Leben sei unstet und rastlos, reservativ Lebende seien Getriebene, unausgesetzt bedrängt von der Forderung, unausgesetzt grundlos entscheiden zu müssen.

161

Reservatives Leben ist nicht asketisches Leben, es ist aber auch nicht tugendhaftes Leben. Tugend ist der Versuch, zwischen möglichen Extremen weltwirklicher Gültigkeiten, insbesondere Triebgültigkeiten, mäßigend zu vermitteln. Tugend ist selbstdisziplinierende Gewöhnung daran, im Getriebe der Gültigkeiten Maß zu halten (verbunden mit der Hoffnung, dadurch zu einem gelingenden Leben in Gemeinschaft wesentlich beizutragen).
Reservatives Leben hält sich dagegen auch unabhängig von der Rationalität der Tugend, von den Tugendgültigkeiten der Mitte und des Maßes. Es gebraucht die Mitte gerade so, wie die Extreme. Es gebraucht die Tapferkeit gerade so, wie Feigheit und Übermut. Keine Gültigkeit ist grundsätzlich ausgeschlossen, keine Gültigkeit genießt einen Vorzug. Welche Gültigkeit im Hier und Jetzt reservativ zu gebrauchen ist, muss im Hier und Jetzt reservativ entschieden werden.

Mittwoch, 28. September 2016

160

Repräsentatives Leben ist immer Funktion irgendeiner Rationalität zur Herstellung irgendeiner Identität, einer Identität von Existenz oder gar Sein mit irgendeiner Vorgabe oder mit irgendeinem Vorhaben.

Dienstag, 27. September 2016

159

In einem groben Zugriff lassen sich grundsätzlich zwei Typen repräsentativer (politischer) Sprache unterscheiden. Sprache repräsentiert entweder einen Ursprung, ist also ein rekonstruktives Symbolsystem des Gewordenen, der Herkunft, oder aber sie repräsentiert ein Ziel, ist also ein konstruktives Symbolsystem des Kommenden, der Zukunft.

Samstag, 24. September 2016

158

Reservative Existenz im repräsentativen Kontext ist, streng genommen, eine beständige Täuschung, ein als ob, ein Schein des Dazugehörens, ein Schein des Mitmachens und des Dabeiseins. Die eigentlich erforderliche Übersetzungsleistung ist kaum zu erbringen.

Freitag, 23. September 2016

157

Das Symbol meines Blogs ist der Construct-Szene des ersten Teils der Matrix-Trilogie entnommen (siehe Nr. 27). Wir werden die Symbole nicht los. Wir sind schließlich Menschen. Wir werden also auch unsere Sprache als Symbolsystem nicht los.

156

Leiden und Verzweiflung an unserer Existenz haben sehr viel damit zu tun, wofür die uns unmittelbar umgebende Weltwirklichkeit steht, was sie repräsentiert. Wenn Gesundheit und hohe Lebenserwartung (vermeintlich) selbstverständlich sind, dann können Krankheit und früher Tod nur irritieren.
„Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“ (Kierkegaard). Fundamentaler formuliert: In der Differenz von Repräsentationen und Existenz findet sich eine wesentliche Ursache dafür, dass wir Sein und Existenz nicht hin- und annehmen können, wie sie sind.

155

In einer kommenden nach-säkularen Zeit müssen wir alles daran setzen, dass Religion und Metaphysik nicht erneut die Oberhand gewinnen. Das kann uns aber nicht gelingen, indem wir an der Unterscheidung von religiös-metaphysischer Interpretation und Lebensführungspraxis einerseits und säkularer Interpretation und Praxis andererseits festhalten. Säkularität verbleibt strukturell im repräsentativen System ihres Gegners, ihrer Herkunftsreligion und ihrer Herkunftsmetaphysik – was sie zuletzt ähnlich hilflos werden lässt gegenüber der Weltwirklichkeit. Helfen kann allein, wenn wir eine neue Unterscheidung gewinnen: eine Unterscheidung zwischen repräsentativer und reservativer Interpretation und Praxis.

Sonntag, 18. September 2016

154

Das Gleichnis, das Bild, das Symbol eröffnet nicht den Zugang zur „Wahrheit“. Es steht der Aufklärung vielmehr im Wege.

Freitag, 16. September 2016

153

Die Liebe vollendet sich in der Treue (Kierkegaard). Christlich verstanden ist der Satz grauenvoll. Da stinkt er geradezu nach Pflicht am Ende der Leidenschaft. Reservativ interpretiert verweist er jedoch auf äußerste Freiheit. Reservative Liebe ist weder Leidenschaft noch Pflicht. Sie ist wirklichkeitsfreie Verbindlichkeit und Verlässlichkeit, unbedingte, bedingungslose Selbstbindung des Wollens - und damit zugleich des Tuns.

152

Küchenempirie an der Supermarktkasse: Alternde Gesellschaften beruhigen sich nicht. Sie werden bissiger und unduldsamer.

151

Wie können wir uns in einer Weltwirklichkeit der Gleich-Gültigkeiten noch halten? Durch Interpretation (Wirklichkeitsanschauung), Tugend (Disziplin) oder Medikamente (Drogen). Ich bevorzuge die Interpretation.

Montag, 12. September 2016

150

Reservatives Leben ereignet sich in Raum und Zeit, also in Relativität und Veränderung. Da gibt es nicht bessere oder schlechtere, nicht rückständige oder fortschrittliche Zustände. Es gibt lediglich relative und veränderliche Zustände des Leids und des Glücks, mit denen es umzugehen, denen gegenüber es Unabhängigkeit, Freiheit zu wahren gilt.

149

Von der Existenz aus dem Denken herausgerissen, ist der Weg zurück zunehmend lang und beschwerlich. Zumal ich (bloß) durch- und querschnittlich begabt bin. Ich folge und gehorche keinem Dämon.

Montag, 5. September 2016

Mittwoch, 10. August 2016

147

Liebe ist die Freiheit von sich selbst für den anderen. Selbstsein und Fürsein werden an Grenzen, spätestens jenseits von Grenzen zum Widerspruch. Ein Widerspruch, der sich zuletzt nicht durch Disziplin, sondern allein durch Liebe halten lässt.

Mittwoch, 3. August 2016

146

Ruhe und Distanz zum bislang Formulierten tun gut. Gegenwärtig scheint (wieder einmal) meine Existenz mein Denken zu überholen – wo ich doch mit der denkenden Aufarbeitung des Gewesenen erst ansatzweise begonnen habe.

Sonntag, 24. Juli 2016

145

Hab die öffentliche Auffindbarkeit des Blogs erst einmal wieder zurückgenommen. Weiß gerade noch nicht so recht, wie es hier weitergehen kann. Muss einiges über- und weiterdenken.

Freitag, 22. Juli 2016

144

Der Weg in ein nicht-repräsentatives, nicht-materialistisches Leben und Zusammenleben ist ein Holzweg im Sinne Heideggers: „Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege“. Den Holzweg der Reservation hat schon einmal jemand beschritten, aber das ist lange her. Der Weg ist anstrengend, einsam, beängstigend. Doch „er führt zu den Quellen“ (Heidegger). Nicht zu Quellen von Sein und Existenz, nicht zu Quellen des Todes, sondern zu Quellen des Aufgehoben- und Überwundenseins von Sein und Existenz, zu Quellen des Lebens.

Donnerstag, 21. Juli 2016

143

Mündigkeit und Autonomie sind Ideale, denen keine Wirklichkeit je entsprechen wird. Nur wenige sind zur Freiheit begabt und willens. Die große Mehrheit funktioniert – gesteuert durch Reize und Regeln, die sie mit Freiheit verwechselt.

142

Auf die Einträge seit Februar zurückblickend, habe ich den Eindruck, bislang lediglich Fragmente einer unvollständigen Einleitung formuliert zu haben. Aber immerhin. Was nun folgen müsste, wäre die Existenzialisierung und Politisierung eines reservativ interpretierten Evangeliums. Was mir allerdings dazu fehlt, ist die Gelegenheit. Oder ein wenig dramatischer: Dem steht meine Existenz gegenwärtig im Wege.

Mittwoch, 20. Juli 2016

141

„Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen“ (Bonhoeffer). Das meint reservative Freiheit: sich der Wirklichkeit nicht mehr durch Flucht in alternative, mögliche Wirklichkeiten entziehen müssen, sondern sich der Wirklichkeit aufhebend und überwindend, praktisch verungültigend stellen können.

140

Nachtrag zu 138: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein“ (Luther). Das ist richtig, kann aber zugleich in die Irre führen. Richtig ist: Luther zerreißt mit diesem Satz das in der christlichen Tradition geknüpfte seinsanalogische Band zwischen Gott und Mensch. Gott ist Gott, Mensch ist Mensch.

Dienstag, 19. Juli 2016

139

Eine nach-säkulare, nun wieder integrative Interpretation von Wirklichkeit, die nicht zurückfällt in die repräsentative Mechanik von Religion und Metaphysik, die aber auch nicht die reformatorische Spaltung Gottes aufleben lässt, findet sich heute weniger im deutschen Denken - eher in der französischen und italienischen Philosophie, hier insbesondere in jenem philosophischen Paulinismus der vergangenen zwei Jahrzehnte, der sich im Milieu jüdischen Denkens nach Auschwitz zu entwickeln beginnt. Was diesen Paulinismus allerdings daran hindert, eine postsäkulare (politische) Perspektive zu öffnen, ist sein strikter Materialismus, dann aber auch sein innerwirklicher Messianismus, der Letztes ins Vorletzte hineinzuziehen versucht und damit auf kommende Weltwirklichkeiten setzt, die im Weltwirklichen nie wirklich werden.

Montag, 18. Juli 2016

138

Was mich gerade noch einmal und verschärft beschäftigt: Was, wenn unsere Natur als Wirklichkeit so massiv Geltung beansprucht, dass wir im als ob nicht keinen Frieden mehr finden, dass wir uns keine reservative Distanz mehr verschaffen können zur Wirklichkeit unserer Natur? Was, wenn wir nicht mehr in der Freiheit zur Ruhe kommen können, wenn wir nicht mehr anders können, als nach Himmel und Erde zu fragen (Ps 73,25), und wenn uns gerade diese Frage aus dem Stand des Rufs herausreißen will (1 Kor 7,20)?

Donnerstag, 14. Juli 2016

137

Ich selbst verstehe Postsäkularität gewissermaßen als normativen Epochenbegriff – als eine der Wirklichkeitsentwicklung entnommene Aufforderung, interpretatorisch und praktisch in eine Epoche des Übergangs vorzudringen.

Mittwoch, 13. Juli 2016

136

Die Zeit scheint sich heute zu stauchen, und so ist es fast schon eine sportliche Angelegenheit geworden, in immer kürzeren Abständen neue Zeiten auszurufen und für die jeweils neue Zeit einen geeigneten Begriff zu erfinden. Epochen währen nicht mehr Jahrhunderte, sondern bestenfalls noch Jahrzehnte. Die spätmoderne Epochenbezeichnungs-Olympiade hat etwas Lächerliches, ist aber auch deutliches Symptom für unsere immer hilfloser werdenden Versuche, der rasanten Wirklichkeitsentwicklung verstehend hinterher- und beizukommen.

Dienstag, 12. Juli 2016

135

Nach den Wendejahren 1945 und 1989 setzt sich das politische Projekt der Moderne in einer durch die Wirklichkeitsentwicklung weiter aufgeklärten Fassung zunehmend durch. Der säkulare Rechtsstaat und die liberal-demokratische Regierungstechnik werden zum globalen politischen Ideal.

Montag, 11. Juli 2016

134

Wem es möglich ist, Ungültigkeitsglaube und Ungültigkeitsinterpretation links liegen zu lassen, der möge beides tatsächlich weiträumig umfahren. Es ist eines, diesen Glauben und diese Interpretation zu initiieren und dann rasch abzutreten. Etwas anderes ist es, diesen Glauben und diese Interpretation in unserer Gegenwart leben zu müssen, ein ganzes Menschenleben lang reservativ denkend und handelnd auszuharren. Der reformatorische Glaube hat etwas Bitteres, sagt Jochen Klepper. Reservativer Glaube ist auch in dieser Hinsicht Verschärfung und Vollendung der Reformation.
Calvin hat den reformatorisch Glaubenden in Frankreich stets empfohlen, auch unter Verfolgung in ihrem jeweiligen Stand zu bleiben und um des Messias willen zu leiden. Wem die Kraft nicht gegeben war, dieser Empfehlung zu folgen, dem hat Calvin jedoch den Exodus eröffnet. Wohl dem, der den Exodus wählen darf.

Samstag, 9. Juli 2016

133

Die säkulare Moderne nimmt den sichtbaren, den zwar transzendenten, durch Reflexion und Erfahrung jedoch zugänglichen Gott endgültig aus dem politischen Spiel. An seine Stelle treten Mensch und Menschliches als neue sichtbare Götter, als vermeintlich sichere Gründe und als vermeintlich sichere Verheißungen des Politischen.

Freitag, 8. Juli 2016

132

Deutschland ist gegen Frankreich im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft ausgeschieden. Schade eigentlich. Mehr aber auch nicht. Als kleiner Junge habe ich bei Spielen der Nationalmannschaft – es war die Zeit von Rainer Bonhof, Manfred Kaltz, Klaus Fischer und Karl-Heinz Rummenigge – vor dem Fernseher regelmäßig ganz still für den Sieg gebetet. Und ich war immer tief betroffen, wenn mein Gebet nicht erhört wurde. Gefühlt kam das viel zu oft vor (besonders dramatisch: die Schmach von Córdoba). Das waren meine ersten, noch ganz kindlichen Begegnungen mit dem sichtbaren Gott und seinen leeren Versprechungen. Die späteren Begegnungen waren substanzieller, die inneren Kämpfe wurden härter, aber grundsätzlich waren es stets die gleichen Ent-Täuschungen. Dabei habe ich mich mit dem üblichen religiösen Zirkel – Gott erhört Gebet, und wenn nicht, dann dient es zum Besten – nie anfreunden können.

131

Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft. Die Hymnen werden gespielt. Eine meiner Töchter schüttelt irritiert den Kopf. „Was ich nicht verstehe“, sagt sie, „wie kann irgendjemand zu einen beliebigen Stückchen Land sagen: ‚Das gehört mir‘?“

Donnerstag, 7. Juli 2016

130

Die Reformation lässt sich als Versuch interpretieren, den unsichtbar werdenden, den in die Unsichtbarkeit verdrängten, den in die Unsichtbarkeit sich zurückziehenden Gott in der Weltwirklichkeit irgendwie im Spiel zu halten.

129

Ich kenne nicht wenige religiöse Menschen, die ihrem Gott ernsthaft treu sein wollen, die ihre Existenz ganz an ihren Gott hängen. Alles, was von diesem Gott abbringen will, wird als Zweifel verbucht, den es zu besiegen gilt. Und nach dem Sieg, so die Hoffnung, wird die existenzielle Bindung an Gott umso fester.

Mittwoch, 6. Juli 2016

128

Habe noch einmal Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“ zur Hand genommen. Dieses Buch war für mich zu Beginn des Studiums der Eintritt in eine neue aufregende Interpretationswelt. Gleichzeitig ereignet sich der Austritt aus der alten: durch die Begegnung mit Charles Haddon Spurgeons Kampf gegen die Arminianer und durch die Auseinandersetzung mit Max Webers Deutung der calvinistischen Prädestinationslehre als rationale Lösung der Theodizee. Nietzsche einerseits, Spurgeon und Weber andererseits, durch Spurgeon und Weber dann vor allem auch Calvin – für mich eine explosive Mischung, die rückblickend wesentlich zur Dekonstruktion repräsentativer Denk- und Lebensmuster beigetragen hat.

127

Lassen sich Kulturen wenden? Nein. Aber Kulturen wenden sich. Dekonstruktion ereignet sich. Dekonstruktion geschieht, nicht zuletzt im Gang des jeweiligen Sprachspiels. Wer hätte ahnen können, dass dem christlichen Sprachspiel und der mit ihm gegebenen Kultur die Säkularität, zuletzt der Nihilismus innewohnen? Vielleicht werden sich künftige Generationen rückblickend darüber wundern, wie man überhaupt repräsentativ denken und handeln konnte.

126

In postsäkularer Zeit bedarf es keiner (erneuten) Auseinandersetzung zwischen säkularen und religiösen Interpretationen. Es bedarf einer (neuen) Auseinandersetzung zwischen repräsentativen und reservativen Interpretationen. Wir müssen die Repräsentationen hinter uns lassen. Und in der Frage der Repräsentation sind sich Säkulare und Religiöse grundsätzlich einig. Hier kämpfen sie an der gleichen Front. Beide gilt es reservativ zu überwinden.

125

Religiöse Menschen sind nicht so, wie sie sind, weil sie religiös sind. Sie sind vielmehr religiös, weil sie so sind, wie sie sind. Sie sind religiös, weil sie ein Dach und eine Couch brauchen. Einen Ort der Sicherheit und einen Ort der Ruhe für Interpretation und Praxis. Gleiches gilt für Metaphysiker.

Dienstag, 5. Juli 2016

124

„Jeder Entscheidung, jeder sich ereignenden Entscheidung, jedem Entscheidungs-Ereignis wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne, wie ein wesentliches Gespenst“ (Derrida). Jeder Schließung, jeder sich ereignenden (Ent-)Schließung, jedem Schließungs-Ereignis wohnen zahllose Öffnungen wie Gespenster inne, wie wesentliche Gespenster. Wirklichkeit ist nichts für Feiglinge.

Montag, 4. Juli 2016

123

Wenn wir global weder auf eine „Universaldespotie“ (Kant) noch auf einen Zustand des Krieges aller gegen alle zusteuern wollen (wobei das eine das andere zur Folge haben kann), dann werden wir in postsäkularer Zeit wohl eine veränderte Einheit von Wirklichkeitsinterpretation und Macht, von Glaube und Politik vorbereiten müssen. Erste Aufgabe wird es sein, die Gründung von Politik und politischer Gemeinschaft auf Gültigkeiten, gleichzeitig die Vorstellung von Politik und politischer Gemeinschaft als Repräsentation von Gültigkeiten zu überwinden. Zur Begründung einige vorläufige Andeutungen.

Freitag, 1. Juli 2016

122

Eine Juristin hat kürzlich einen meiner politisch-theologischen Texte besprochen. Mein Beitrag sei „poetisch-paränetisch“ und mache aus „juristischer Sicht […] ein wenig ratlos“. Nun ja. Es ist wohl so, dass jeder halbwegs pointiert formulierte politisch-theologische Text einem Juristen poetisch und paränetisch erscheinen muss. Ratlos macht mein Beitrag die Rezensentin wohl zunächst deshalb, weil er sich nicht mit den üblichen juristischen Prüfschemata fassen lässt. Vielleicht ist jedoch noch mehr geahnt: dass meine Politische Theologie, würde sie tatsächlich wirklichkeitsrelevant, das Ende der Juristenherrschaft einläuten würde.

Donnerstag, 30. Juni 2016

121

Grundsätzlich hält das deutsche politische Denken die säkulare Konstruktion des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates für ausreichend stabil, auch wenn durchaus ein Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass sich ein universal gültiger und tragfähiger Halt für diesen Staat und seine Politik heute kaum noch verfügbar machen lässt.

Mittwoch, 29. Juni 2016

120

In der säkularen Moderne tendieren Staat und Politik dazu, sich von Kirche und Religion zu lösen: Sie werden nicht mehr religiös begründet, nicht mehr religiös legitimiert. Der Staat ist nicht mehr Repräsentant Gottes, Politik ist nicht mehr Exekution göttlichen Willens. Gott und das Göttliche sind als quasi-sichtbare, transzendent-religiöse Gültigkeiten unwiederbringlich verloren. An ihre Stelle treten als neue sichtbare, immanent-religiöse Gültigkeiten der Mensch und das Menschliche. Mensch und Menschliches gilt es nun politisch zu repräsentieren.

Dienstag, 28. Juni 2016

119

Die christliche Religion ist als Großerzählung einer möglichen Repräsentation des Göttlichen im Weltwirklichen so verfasst, dass sie die Einheit im Sinne eines wechselseitigen Gebrauchs und einer wechselseitigen Förderung von Religion und Politik sicherstellt. Durch die analoge und parallele Konstruktion von religiösem und politischem Gültigkeitssystem ist allerdings dauerhaft strittig, wie die Zuordnung der beiden Systeme zu begreifen ist und welches System über welche Herrschaftsmittel verfügen darf.

Montag, 27. Juni 2016

118

Noch eine alte Einsicht: Interesse und Begabung fallen nicht immer zusammen, und ausgeprägtes Interesse bei gleichzeitig ausgeprägter Begabung ist ein seltenes Phänomen. Das muss den potenziellen Superstars, die unsere Schulen verlassen und unsere Hochschulen bevölkern, vielleicht noch einmal gesagt werden. Es ist ein mühevoller und zumeist demütigender Prozess, die eigenen Interessen und Begabungen nüchtern anschauen zu lernen, über ihnen Ruhe zu finden - und dann das und allein das zu tun, was möglich und vor allem notwendig ist.

117

Verbiete einer Menge von Menschen im allgemeinen Interesse etwas Reizvolles. Einer in der Menge wird sich finden, der es dennoch tut. Und sobald er es tut und die Menge ihn dabei beobachtet, kann man sicher sein, dass nicht wenige es ihm gleichtun.
Menschen kann man vielleicht mit guten Gründen überzeugen und binden. Massen dagegen nicht. Massen sind einerseits unberechenbar, andererseits leicht manipulierbar. Alte Einsichten, an denen keine Aufklärung je etwas ändern wird.

Samstag, 25. Juni 2016

116

Nachtrag zur gestrigen Abiturfeier: Wenn Theologen zur Gegenwart nichts anderes mehr beitragen können, als Regenbögen an den Himmel zu zeichnen, wenn sie nur von Welten und Menschen reden können, die es nicht gibt, wenn sie nur Welten und Menschen fordern können, die es nie geben wird, dann brauchen wir sie nicht.
Was wir brauchen, sind Theologen, die – wie Luther sagen würde – zwischen Gesetz und Evangelium unterscheiden gelernt haben. Allerdings nach-religiös und nach-metaphysisch. Wir brauchen Theologen, die eine ganz gegenwärtige und ganz gegenwärtig befreiende Interpretation des Verhältnisses von Weltwirklichkeit und Gotteswirklichkeit anbieten. Eine Interpretation, die keine Bilder mehr braucht, die kein religiöses und auch kein metaphysisches Apriori mehr voraussetzt.

Freitag, 24. Juni 2016

115

Wir können nichts daran ändern, dass die Kinder, die uns anvertraut sind, als Wirklichkeitsdiener geboren sind. Dieser Zustand lässt sich nicht durch Erziehung oder gar Disziplinierung überwinden. Auch lässt sich nicht verhindern, dass unsere Kinder den Geltungsansprüchen von Sein und Existenz unablässig ausgeliefert sind und dass sie ihnen unablässig erliegen. Was wir tun können ist dies: sie unablässig auf Brüche und Fehler im System hinweisen, sie unablässig darauf aufmerksam machen, dass die Wirklichkeit nicht hält, was sie verspricht (usus elenchticus realitatis). Und selbstverständlich für sie da sein, wenn sie sich selbst und der Wirklichkeit auf den Leim gehen.
Ob unsere unruhigen Kinder eines Tages Ruhe finden dürfen in aller Rationalität, in aller Sinnlichkeit und in aller Leiblichkeit – das liegt nicht in unserer Macht.

114

Abiturfeier. Virtuell das Ereignis, von Maskierten umgeben. Kaum ein Kind, das hier sein „Reifezeugnis“ in Empfang nimmt und zuvor gelernt hat, sich von sich selbst, von seiner Existenz und vom Sein überhaupt zu distanzieren.

113

Brexit. Wo auch immer uns das hinführen wird. Jedenfalls sind die zahlreichen, der Globalisierung gegenläufigen Tendenzen zur national, ethnisch, religiös oder anders motivierten, immer aber irgendwie regional orientierten Separation auch ein Symptom dafür, dass sich politische Gemeinschaften nicht ohne Weiteres durch die großen Erzählungen von Menschenwürde und Menschenrecht unter einem einzigen großen Dach zusammenführen lassen.

Donnerstag, 23. Juni 2016

112

Keine Interpretation bringt uns der Wirklichkeit so nahe, wie die Interpretation als ob nicht - weil sie uns alle Bilder von Wirklichkeit nimmt. Keine Interpretation bringt uns so deutlich auf Distanz zur Wirklichkeit, wie die Interpretation als ob nicht - weil sie die Eigenmacht der Wirklichkeit durchbricht.

Mittwoch, 22. Juni 2016

111

Mit seiner Unterscheidung zwischen Vorletztem und Letztem öffnet Bonhoeffer einerseits einen theologischen Zugang zur Diesseitigkeit des Glaubens, andererseits ist dadurch, dass er das Vorletzte im Letzten „gänzlich aufgehoben und außer Kraft gesetzt“ (Ethik) sieht, die Weltwirklichkeit radikal relativiert.

Dienstag, 21. Juni 2016

110

Ein Sitzungstag im evangelisch-religiösen Gültigkeitsmilieu. Immer wieder irritierend, wie modern hier noch geglaubt und gedacht wird. Da fühle ich mich immer ein bisschen wie Jerry, die Maus: An einem Felsvorsprung stehend schaut Jerry der Katze Tom hinterher. Auf der Flucht ist Tom einfach über den Rand des Felsens hinausgelaufen. Jetzt wedeln seine Beine in der Luft, er winkt noch nichtsahnend und vergnügt zurück - dann der Absturz. Mit diesem Bild vor Augen fällt es mir tatsächlich über die Jahre immer schwerer, mich in Gültigkeitsdiskurse hineinzubegeben und an ihnen teilzunehmen. Ein bisweilen nur schwer noch lebbares als ob.

Montag, 20. Juni 2016

109

Kürzlich habe ich ein mögliches Bekenntnis reservativen Glaubens formuliert (Nr. 95). Darin nenne ich Gott auch Geist. „Ich glaube Gott, den Einen, als Geist. Er ist anders. Er ist verborgen. Ich vernehme Ihn nicht. Mein Verstehen bindet Ihn nicht. Von allem, was ist, darf ich frei sein. Für das, was ist, will ich da sein.“

Sonntag, 19. Juni 2016

108

Reservativer Gottesdienst ist wirklichkeitsfreier Wirklichkeitsdienst. Dieser Dienst lässt sich zunächst denken als Gottesdienst des Einzelnen an sich selbst. Vorzustellen ist dabei das reservative Subjekt, dass sich selbst einer reservativen Selbstinterpretation, einer reservativen Selbsthaltung und einer reservativen Selbstpraxis unterwirft. Hier nimmt alles seinen Anfang. Vom reservativen Subjekt, dass sich selbst so begreift und sich selbst so gebraucht, als wäre es der Sünde gestorben (Röm 6,11), geht alles Weitere aus, hängt alles Weitere ab.

Freitag, 17. Juni 2016

107

Es ist oft nur eine „haarfeine Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet“ (Max Weber). Nur haarfein ist oft auch die Linie, die Gleich-Gültigkeit und Gleich-Ungültigkeit scheidet. Diesseits wie jenseits dieser Linie radikale Diesseitigkeit. Diesseits Sklaverei, jenseits dagegen Freiheit.

Donnerstag, 16. Juni 2016

106

Intuitiv können Ungültigkeitsglaube und das darin gewagte als ob nicht dazu verleiten, die Weltwirklichkeit für belanglos zu halten. Diese Annahme kann sich unterschiedlich Ausdruck verschaffen: hedonistisch, fatalistisch, lethargisch, apathisch, phlegmatisch, quietistisch, mystisch, monastisch, asketisch. Der so oder so vollzogene Rückzug aus der Weltwirklichkeit als Aufgabe kann sich zur Todessehnsucht steigern, zum letztlich nicht mehr zurückzuweisenden Wunsch, die nichtige Scheinwelt des Todes endlich hinter sich zu lassen, sich ihr nicht mehr stellen zu müssen und in einer Gotteswirklichkeit des Lebens sein zu dürfen – vergleichbar dem Wunsch nach Erlösung, der den Jungen Michael Karl Popper in der Kid’s Story der Animatrix in den (scheinbaren) Suizid treibt.

105

Psychoanalytisch lässt sich das ungültigkeitstheologisch Angenommene vielleicht als Außer-Ich-Ich bezeichnen, als ein Ich außerhalb meiner selbst, das als ganz anderes Ich die Interpretation meiner selbst und meiner Umwelt (und meine entsprechende Praxis) zu durchdringen und zu bestimmen beginnt. Dabei macht jedoch das Außer-Ich-Ich keine neuen Geltungsansprüche geltend. Auch werden keine bestimmten weltwirklichen Geltungsansprüche bevorzugt – weder jene der verschiedenen Instanzen des Selbst noch jene der Umwelt. Das Außer-Ich-Ich ist eine Außer-Ich-Instanz des Selbst, vor der alle Geltungsansprüche erst einmal zur Ruhe kommen dürfen und Stille halten müssen. Eine paulinische Umschreibung des Außer-Ich-Ich findet sich in Gal 2,20: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Messias lebt in mir.“

Mittwoch, 15. Juni 2016

104

Der (allein) im Ungültigkeitsglauben angelegte Wille zur Macht weist die Geltungsansprüche aller Wirklichkeitsmächte unbedingt zurück, auch und gerade die Ansprüche vermeintlich höherer, religiöser oder metaphysischer Gültigkeiten. In dieser universalen Zurückweisung als ob nicht öffnet sich ein Leerraum. Ein Freiraum wird reserviert für Denken und Handeln, für Interpretation und Praxis. Wille zur Macht ist reservativer Wille, insofern er im Streit weltwirklicher Gültigkeiten ein unausgesetztes Innehalten fordert und ermöglicht.

Samstag, 11. Juni 2016

103

Noch einmal ein Rückgriff auf die Symbolik der Matrix-Trilogie.

102

Ungültigkeitstheologische Interpretation sieht die Pointe der biblischen Schöpfungserzählungen nicht darin, dass Gott Schöpfer der Weltwirklichkeit ist (etwa im Sinne eines philosophischen Postulats oder der religiösen Annahme eines „intelligent design“). Gesagt ist vielmehr: Geschaffene Wirklichkeit und tatsächliche Weltwirklichkeit brechen unvermittelbar auseinander. Zugleich bricht der Zugang zur Gotteswirklichkeit ab. Der Rückweg in die geschaffene Wirklichkeit und damit in die Gottesnähe ist ausgeschlossen (Gen 3,24).

Freitag, 10. Juni 2016

101

Gestern Abend: Vortrag von Holm Tetens an der Hochschule für Philosophie in München. Thema: „Schöpfergott oder Lückenbüßer? – Zur kosmologischen Dimension der Rede von Gott“.

Donnerstag, 9. Juni 2016

100

Wenn ein religiöses oder metaphysisches Etwas unrettbar verloren ist, an dem wir uns festmachen könnten, das uns entlasten und das uns (miteinander) verbinden könnte, wenn die nihilistische Gleich-Gültigkeit aller Gültigkeiten heraufzieht, wenn die Selbstmächtigkeit des Menschen fragwürdig und die Eigenmacht der Weltwirklichkeit bedrohlich wird, dann bleibt uns allein noch der unbedingte „Wille zur Macht“ (Nietzsche), um uns über uns selbst, über andere und über den Strom der chaotischen Wirklichkeitsgeschehnisse zu erheben, um uns der Weltwirklichkeit insgesamt zu bemächtigen.

Mittwoch, 8. Juni 2016

99

Große religiöse oder metaphysische Erzählungen, repräsentative Systeme des Denkens und Handelns sind letztlich unhaltbar und sogar gefährlich.

Dienstag, 7. Juni 2016

98

Eine Theologie der Ungültigkeit füllt keine Bibliotheken. Sie lässt sich auf eine einzige Aussage reduzieren: Gott wird so geglaubt, dass in ihm die Welt als ungültig angenommen werden darf. Theologie der Ungültigkeit ist damit eine postsäkulare, aufgeklärte Behauptung jener alten Gewissheit, die sich bereits in der Hiob-Erzählung findet: „Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ (Hiob 19,25). Die Theologie dieser Gewissheit nenne ich reservativ. Reservativ nenne ich aber vor allem auch Denken und Handeln, Interpretation und Praxis, die sich dieser Theologie entnehmen.

Sonntag, 5. Juni 2016

97

Eine Theologie der Ungültigkeit ist von ihren eigenen Begriffen bedroht. Üblicherweise sind Begriffe für uns allgemein anerkannte Formen, die allgemein anerkannte Substanzen erfassen. Für die Bewältigung des Alltäglichen, für das alltägliche Leben ist dieses Verständnis von Begriffen auch durchaus angebracht (wenngleich wir wissen, dass allgemeine Formen und allgemeine Substanzen bloß Fiktionen sind und Begriffe daher lediglich Fiktionen repräsentieren).

Samstag, 4. Juni 2016

96

Nach 95 Einträgen (Achtung: nominalistische Symbolik) habe ich vorhin auf meiner universitären Homepage einen Link zu meinem Blog gesetzt. Ein erster Schritt in die öffentliche Auffindbarkeit.

Freitag, 3. Juni 2016

95

Wenn wir die glaubend als ob angenommene Gotteswirklichkeit Gott nennen und wenn wir Gott mit Begriffen näher bestimmen, dann ist das zunächst ein nominalistischer, vor allem aber ein pragmatischer Akt.

Donnerstag, 2. Juni 2016

94

Inwiefern kann die Gotteswirklichkeit "Gott" genannt werden? Wie lässt sich "Gott" begreifen?

Mittwoch, 1. Juni 2016

93

Als Interpretierender aufmerksam zu existieren und zugleich als Existierender aufmerksam zu interpretieren – diese Spannung ist nahezu unerträglich, fordert den ganzen Menschen. Deshalb neigen nicht wenige dazu, die Spannung einseitig aufzulösen. Die einen werden belanglose Schachspieler des Denkens, die anderen werden bedauernswerte Funktionäre des Lebens.

92

Der Ungültigkeitsglaube ist form- und substanzloser Glaube. Er greift auf keine vorgegebene Form und auf keine vorgegebene Substanz zurück (z.B. auf einen form- oder substanzstiftenden göttlichen Willen), und er lässt sich auch nicht auf eine bestimmte Form (z.B. ein bestimmtes Rechtssystem, eine bestimmte Intitutionalisierung) oder Substanz (z.B. eine bestimmte Kultur, eine bestimmte Moral, bestimmte Werte) festlegen. In der Weltwirklichkeit vorgefundene Formen und Substanzen gebraucht der Glaubende als ob nicht. Er bleibt also in dem jeweils gegebenen „Stand“ (im Sinne einer „Berufung“), ohne sich diesem „Stand“ zu unterwerfen (1 Kor 7,20­–23). Im Ungültigkeitsglauben macht der Glaubende in der Weltwirklichkeit mit, er macht zugleich aber doch nicht mit. Er nimmt jede beliebige Form und Substanz hin und an, instrumentalisiert Form und Substanz aber zugleich im Dienste seines Glaubens. Wenn es sein muss, setzt er sich sogar über jede Form und Substanz hinweg.
Zu formulieren, was das für Haltung und Praxis des Einzelnen und für Haltung und Praxis von Gemeinschaften bedeutet, empfinde ich als besonders große Herausforderung – gerade auch in Abgrenzung zur christlichen Haltung und Praxis. Aber bei Paulus gibt es dazu ja einige hilfreiche Vorüberlegungen.

91

Calvin bezeichnet die Weltwirklichkeit als theatrum gloriae Dei, als Schauplatz zur Ehre Gottes. Es gibt kaum einen treffenderen Namen. Allerdings will uns der Glaube nur quer hinunter, dass Aufhebung und Überwindung von Sein und Existenz, dass die Verungültigung der Weltwirklichkeit der Ehre Gottes dienen sollen. Und warum Sein und Existenz überhaupt noch sind, warum das Werden des Vergehens der Weltwirklichkeit unserem Vernehmen und Interpretieren nach so lange dauert – diese Frage lässt sich schlechtweg nicht beantworten (eine Frage, die sich allerdings allein in der Weltwirklichkeit stellt).
Was sich jedoch vor diesem Hintergrund sagen lässt: Die unbedingte Verpflichtung auf das „Leben“, die sich etwa im katholischen oder auch im evangelikalen Denken finden lässt (konkretisiert in Fragen der Abtreibung, der Empfängnisverhütung oder der Sterbehilfe), dient gerade nicht der Ehre Gottes. Sie dient der Ehre der Götter der Weltwirklichkeit. Wir tun weder uns noch Gott einen „Gefallen“, wenn wir uns unbedingt an das weltwirkliche Sein und die weltwirkliche Existenz hängen.

Dienstag, 31. Mai 2016

90

Der Glaube als ob nicht glaubt nicht im eigentlichen Sinne an jemanden oder an etwas, also nicht an eine Person, an eine Tat oder an eine Wahrheit. Der Glaube als ob nicht glaubt vielmehr ein bestimmtes Wirklichkeitsverhältnis: ein Ungültigkeitsverhältnis von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit. Er glaubt, dass die vernehmbare Weltwirklichkeit in der nicht vernehmbaren Gotteswirklichkeit aufgehoben und überwunden, also verungültigt ist.

89

Vergebung meint, das, was andere mir nach den Gesetzen der Weltwirklichkeit schulden, so anzuschauen, als würden sie es mir nicht schulden, die Ansprüche, die ich nach den Gesetzen der Weltwirklichkeit gegen andere geltend machen kann, so zu interpretieren, als wären sie nicht. "Siebzigmal siebenmal" (Mt 18,22) meint also nichts anderes als: ungültig.

Montag, 30. Mai 2016

88

Wenn wir unser Interpretieren und damit zugleich unser Handeln sicher zu gründen versuchen, dann stehen wir vor dem, was Hans Albert „Münchhausen-Trilemma“ nennt.

Sonntag, 29. Mai 2016

87

Ich habe den Untertitel meines Blogs verändert. Aus „Fundstücke messianischen Lebens“ ist „Reservativ denken und leben“ geworden. Einerseits will ich falsche Zuordnungen verhindern. Andererseits will ich mein Profil schärfen, will mich selbst dazu zwingen, mein eigenes Denkprofil zunehmend zu schärfen.

86

Im reformatorischen Glauben, in der reformatorischen Interpretation von Christusereignis und Heiliger Schrift ist gegenüber der römisch-christlichen Repräsentation der Sache selbst im Symbol (mit deutlicher Neigung zur Identifikation) schon viel gewonnen. Allerdings hält das reformatorische Denken gewissermaßen an einer sprachsymbolischen Vermittlung der Sache selbst fest. Reformatorisches Denken bleibt Gleichnis, reformatorischer Glaube bleibt Glaube an etwas, das etwas bewirkt. Die Unmittelbarkeit des Ungültigkeitsglaubens, die ganz eigene und eigenständige Wirklichkeitsuminterpretation des Einzelnen und die darin gewonnene Freiheit, ist noch nicht erreicht. Dieser Unmittelbarkeit nähert sich erst Bonhoeffer an, indem er eine „nicht-religiöse Interpretation der theologischen Begriffe“ oder auch die „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe“ zu erproben beginnt.

Samstag, 28. Mai 2016

85

Das nachchristliche Ungültigkeitsdenken überholt und radikalisiert das reformatorische Gnadendenken. Gnade im reformatorischen Sinne ist gratia aliena, eine der Natur des Menschen fremde Gnade, die ihm ohne Mitwirkungsmöglichkeit und ohne Verdienst zugeeignet wird. Wem es gegeben ist, den Sprung hinein in die Ungültigkeitsinterpretation zu wagen, der darf dieses Wagnis durchaus als nullitas aliena verstehen, als Selbst- und Wirklichkeitsverungültigung, die sich ihm ohne seine Mitwirkung und ohne sein Verdienst eröffnet.

84

Darauf zu hoffen, ein Mensch möge es wagen, die Weltwirklichkeit als aufgehoben und überwunden, als ungültig zu interpretieren, ist vergleichbar mit der Hoffnung, eine 90jährige Frau möge schwanger werden und einen Sohn gebären. Einfach „Isaak“: Lächerlich! Unmöglich!

Freitag, 27. Mai 2016

83

Angenommen, jemand plant ein Fest und sendet einen Boten, der das Fest ankündigt und dazu einlädt. Dann ist das Fest selbst nicht von Ankündigung und Einladung abhängig – man wüsste nur nicht ohne weiteres davon. Und das Fest hängt auch nicht am Boten. Der Bote ist nicht der Ausrichter des Festes. Und er ist schon gar nicht derjenige, der die Teilnahme am Fest allererst möglich macht.

Donnerstag, 26. Mai 2016

82

Giorgio Agamben grenzt in seinem Römerbrief-Kommentar das paulinische als ob nicht zu Recht ab von der Als-ob-Störung eines Borderline-Patienten. Nicht-pathologische Als-ob-Störungen lassen sich durchaus in christlich-religiösen Kontexten beobachten. Da wird nicht selten individuell oder kollektiv eine fromme Scheinwelt entworfen, in der sich die erheblichen Herausforderungen der Weltwirklichkeit gut ignorieren und massive Persönlichkeitsprobleme gut verbergen lassen. Der paulinisch Glaubende dagegen hat die Sünde, die Strukturen und Mechanismen der Welt, nüchtern durchschaut und nimmt mit seinem als ob nicht den Kampf auf – und dies nicht allein, wie Agamben es annimmt, in politischer, sondern in ontologischer und existenzialer Dimension. Paulus geht es nicht (bloß) um politische Freiheit, sondern um Freiheit von sich selbst und der Weltwirklichkeit überhaupt.

Mittwoch, 25. Mai 2016

81

Der christlichen Religion sind die verlässlichen historischen Tatsachen und die glaubwürdigen (Offenbarungs-) Quellen abhanden gekommen – und das Christentum selbst hat erheblich zu diesem Verlust beigetragen. Den christlichen Glauben und das christliche Leben auf Tatsachen und Quellen zu stützen, ist heute allein noch jenen möglich, die sich in eine Art Schein- oder Parallelwelt zurückziehen, dort Schutz suchen vor der tatsächlichen Welt und sich an ein als ob hängen, das sie selbst für wirklich halten. Dieser Rückzug ist ein allzu verständlicher „Verzweiflungsschritt“, eine Art „salto mortale zurück ins Mittelalter“, der allerdings allein erkauft werden kann „mit dem Opfer der intellektuellen Redlichkeit“ (Bonhoeffer).

Dienstag, 24. Mai 2016

80

Das Christentum als Religion hängt seinen Glauben an zahlreiche Ereignisse und Wahrnehmungen. Zentralanker des Glaubens ist das christlich interpretierte messianische Ereignis: die Vergegenwärtigung Gottes im Inkarnationsgeschehen, die Entlassung des Menschen aus seinem Schuldverhältnis im Kreuzesgeschehen, die Befreiung des Menschen zu einer neuen Identität im Auferstehungsgeschehen. Das messianische Ereignis wird interpretiert als wirklichkeitstransformierender Erlösungs- und Heilsakt Gottes. Durch diesen Akt sollen sich Sein und Existenz, Welt und Mensch historisch nachvollziehbar verändern. Zweifelsfrei bezeugt, begründet und ausgelegt wird das messianische Ereignis in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments. Die Heilige Schrift gilt dem Christen als offenbartes Wort Gottes. Diesem Wort zu vertrauen, ihm Sein und Existenz zu unterwerfen und es als göttliche Wahrheit zu bezeugen, setzt wirklichkeitstransformierende Kräfte frei.

Montag, 23. Mai 2016

79

Sein und Existenz sind wie Gras, und ihre Gültigkeiten sind wie eine Blume auf dem Feld. Das Gras verdorrt und die Blume verwelkt (Jes 40,6). Ich selbst zehre daher eher von Erinnerungen an Wirklichkeitswahrnehmungen, als von den Wahrnehmung selbst. Als Erinnerung erscheinen Wahrnehmungen verklärt und permanent. Doch auch unsere Erinnerungen sind natürlich ein Haschen nach Wind (Koh 1,14). Sie verdorren und verwelken. Wie tröstlich. Selbst jene Erinnerungen, die sich beim besten Willen nicht verklären lassen und deren Permanenz uns belastet, können wir anschauen, als wären sie Nichts.

Donnerstag, 12. Mai 2016

78

Dem paulinischen Wagnis des Glaubens geht keine substanzielle Veränderung des Glaubenden voraus. Auch macht der Glaube keinen anderen oder gar neuen Menschen. Der Glaubende ist und bleibt so, wie er ist: gottlos, Sünder und insofern ganzheitlich in den tödlichen Mechanismus des Todes integriert.

Mittwoch, 11. Mai 2016

77

Paulinischer Glaube ist der Versuch, unsere Wirklichkeitsinterpretation von links auf rechts zu drehen: Paulus begreift die Weltwirklichkeit nicht als einen Ort des Lebens, sondern als einen Ort totaler Gottlosigkeit und insofern als einen Ort des Todes. Die Welt ist Sünde, der Mensch ist Sünder, als solche sind sie tot. Solange die Weltwirklichkeit ist, lässt sich daran nichts ändern. Paulus will aber auch gar nichts ändern. Die Weltwirklichkeit wird in ihrer Gottlosigkeit ohnehin vergehen. Der Tod des Todes ist unvermeidlich. Fraglich ist allein, wie die Weltwirklichkeit im Werden ihres Vergehens zu begreifen und zu handhaben ist.

Dienstag, 10. Mai 2016

76

In der säkularen Moderne haben wir uns daran gewöhnt, allein noch das für wirklich, gültig und relevant zu halten, was wir wahrnehmen oder mit technischen Hilfsmitteln wahrnehmbar machen können. Das Vernommene wird bezeichnet, kategorisiert und in unser Welterklärungsgebäude eingefügt. Soweit es sinnvoll und möglich erscheint, sind wir darum bemüht, das Wirkliche und seine Gültigkeiten (Gesetze) beherrschbar und uns dienstbar zu machen. In dieser Interpretations- und Nutzungsmechanik bleibt kein Raum mehr für eine andere, transzendente, nicht vernehmbare Wirklichkeit, die man Gott nennen und für bedeutsam erklären könnte.

Sonntag, 8. Mai 2016

75

Es ist ausgesprochen irritierend, wie sehr der Mensch geneigt ist, an seinen Wirklichkeitsinterpretationen auch gegen alle Erfahrung festzuhalten. Gerade unter christlich Religiösen lässt sich dieses Phänomen beobachten. Wie Sisyphos, so halten sie ihre Wirklichkeitshoffnungen dem Lauf der Dinge wieder und wieder entgegen. Es gelingt ihnen sogar, das tatsächlich Böse als Gut umzuinterpretieren. Ihr „religiöses Apriori“ (Bonhoeffer) hindert sie daran, sich auf Erfahrung und auf nüchterne Wirklichkeitsdiagnosen einzulassen. Ihr Apriori hindert sie aber vor allem daran, sich auf das einzulassen, was unter paulinischen Interpretationsbedingungen „Glaube“ genannt werden kann. Religiosität, auch in ihrer säkularen Erscheinungsform, ist der Feind des Glaubens.

Samstag, 7. Mai 2016

74

Die heutige Tageslosung: „Ihr werdet am Ende doch sehen, was für ein Unterschied ist zwischen dem Gerechten und dem Gottlosen, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der ihm nicht dient“ (Mal 3,18). Über viele Jahre habe ich mich gegen alle Erfahrung an derartigen Verheißungen und damit am Gültigkeitsglauben meiner Herkunft festgehalten. Doch begriffen als Gültigkeitsaussage für eine kommende Weltwirklichkeit ist gerade die Ankündigung einer sichtbaren Unterscheidbarkeit von Gottesdienern und Weltdienern schlechtweg falsch.
Interessanterweise ist mein eigener Gültigkeitsglaube ausgerechnet nach der Auseinandersetzung mit dem Buch Maleachi an sein Ende gekommen – mit jenem Buch, dem in der christlichen Bibel das messianische Ereignis unmittelbar folgt.

Freitag, 6. Mai 2016

73

Was die paulinische Uminterpretation der Weltwirklichkeit zumutet und meint, lässt sich halbwegs andeuten mit Hilfe zweier Szenen aus dem ersten Teil der Matrix-Trilogie: der Spoon- und der Dojo-Szene.

Mittwoch, 4. Mai 2016

72

Paulus lässt sich selbstverständlich auch christlich deuten. Wer ihn nachchristlich in Anspruch nehmen will, darf nicht zimperlich sein, muss über viele vermeintlich christliche Formulierungen rücksichtslos hinwegschreiten und erst einmal nur dort verharren, wo Paulus seine alles entscheidenden Uminterpretationen vornimmt. Von hier ausgehend lässt sich möglicherweise der vermeintlich christliche Paulus insgesamt nachchristlich wenden. Mein eigenes nachchristliches Denken verdankt sich vor allem zwei paulinischen Uminterpretationen.

Montag, 2. Mai 2016

71

Im Verlauf der (Selbst-)Transformation des christlichen Gottes geht uns die zweite Dimension verloren, der Zugriff auf eine Interpretationsdimension „jenseits“ des chaotischen Stroms der Wirklichkeitsgeschehnisse. Damit wird uns zugleich die Möglichkeit genommen, auf sichere, unbedingt und allgemein gültige Wahrheiten des Denkens und Handelns zurückzugreifen und diese als Folie über die verwirrende Weltwirklichkeit zu legen. Die Weltwirklichkeit verliert ihren allgemeinen Sinn und lässt sich auch nicht mehr diesem Sinn gemäß anordnen. Gott hat seinen Platz geräumt.

Sonntag, 1. Mai 2016

70

Kaum eine (pseudo-)paulinische Denkfigur hat mich in den vergangenen Jahren mehr beschäftigt, als das kryptische Zu- und Ineinandern von Katechon (Aufhalter), Anomie (Gesetzlosigkeit) und Anomos (Gesetzloser) in 2 Thess 2,6–8. In Giorgio Agambens Römerbriefkommentar findet sich der spannende Hinweis, Katechon und Anomos könnten sich nach der letzten Entschleierung möglicherweise als ein und dieselbe Macht erwiesen haben. Das Geheimnis der Gesetzlosigkeit läge dann darin, dass der, der zunächst aufzuhalten scheint, indem er als Gesetz und Gerechtigkeit auftritt, zuletzt als der enthüllt wird, der dem Gesetz und der Gerechtigkeit des Messias zutiefst zuwider ist, der sich (selbst an diese Lüge glaubend) machtvoll und eindrücklich an die Stelle des Messias setzt, durch die „Erscheinung seiner Ankunft“ und durch den „Hauch seines Mundes“ jedoch beseitigt und vernichtet wird. Mittlerweile meine ich sagen zu müssen, dass mit Katechon und Anomos nichts anderes gemeint sein kann, als das Christentum selbst.

Freitag, 29. April 2016

69

Was bietet der christliche Gott und welchen (Selbst-)Transformationen unterzieht er sich in seiner etwa 1700jährigen Geschichte?

Mittwoch, 27. April 2016

68

Der moderne Mensch formuliert Gesetze und greift mit diesen unmittelbar auf die Welt zu. Er wird zum Konstrukteur seiner eigenen Welt und der Weltwirklichkeit überhaupt. Die Euphorie, die sich dabei seiner bemächtigt, ist nur allzu verständlich. Ein neuer als ob Gott ist geboren: der Mensch, dessen Ideen nicht bloß als Entwurf, sondern auch als Möglichkeit von Weltwirklichkeit verstanden werden dürfen. Die menschliche Idee setzt den Zweck, zugleich aber auch die Gültigkeiten (Gesetze), denen zur Erreichung des Zwecks Folge geleistet werden muss. Und das scheint sogar zu funktionieren. Die alte christliche Hoffnung auf Weltbesserung oder gar Weltheilung, die Annahme einer Heilsgeschichte, einer allmählichen Vergöttlichung der Weltwirklichkeit kehrt säkularisiert und massiv dynamisiert zurück.

Dienstag, 26. April 2016

67

Im christlichen Hochmittelalter rücken Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit auseinander. Wer und wie Gott eigentlich ist, wird unsicher. Ob sein Wesen, Wollen und Handeln in nachvollziehbare und verlässliche Gültigkeiten (Gesetze) gefasst werden können, oder ob Gott nun als reiner „Willkürgott“ (Hans Blumenberg) vorgestellt werden muss, lässt sich kaum noch sagen. Gott wird entweltlicht, die Welt wird entgöttlicht. Es beginnt ein langes zähes Ringen um die Frage, inwiefern Gott und die von ihm möglicherweise ausgehenden Gültigkeiten noch als relevant für die Weltwirklichkeit vorgestellt werden können, wie die Weltwirklichkeit selbst zu begreifen und wie sie in geeigneter Weise zu bearbeiten ist.

Montag, 25. April 2016

66

Indem er die Weltwirklichkeit durch die Begriffe Sünde und Gesetz hindurch interpretiert, nimmt Paulus unser gegenwärtiges Wirklichkeitsverständnis weitgehend vorweg, treibt dieses sogar noch auf die Spitze.

Samstag, 23. April 2016

65

Was ich hier formuliere, ist nicht mehr als ein Denkexperiment. Dabei geht es nicht um „Wahrheit“. Auch wenn ich positionell auftrete, so erprobe ich doch bloß eine Interpretationsbewegung. Ich knüpfe an paulinischen Denkversuchen an und treibe sie auf meine ganz eigene Weise voran. Worauf das hinauslaufen wird, ist für mich noch nicht absehbar. In der Zwischenzeit beruhige ich mich mit dem guten alten Rat des Gamaliel (Apg 5,38f).

Freitag, 22. April 2016

64

Die funktionale Beziehung, die Paulus zwischen Gesetz und Sünde zu konstruieren beginnt, lässt sich verallgemeinern.

Donnerstag, 21. April 2016

63

Wenn man die paulinische Verhältnisbestimmung von Gesetz und Sünde theologisch ernst nimmt, dann ist damit zunächst dem mosaischen Judentum eine enttäuschende Aufklärung zugemutet.

Mittwoch, 20. April 2016

62

Der neue SCM-Katalog lag gestern in unserem Briefkasten – das Warenangebot der Stiftung Christliche Medien, einer evangelikalen deutschen Verlagsgruppe. Nein, ich habe SCM bislang noch nicht darüber informiert, dass mich ihre Produkte nicht mehr interessieren. Sie interessieren mich nämlich durchaus. Nicht, weil ich sie tatsächlich kaufen wollte. Sondern weil ich von Zeit zu Zeit gerne einmal nachschaue, was in evangelikalen Kreisen gerade so angesagt ist.

Dienstag, 19. April 2016

61

Der paulinische Sündenbegriff zieht eine markante Grenze zwischen Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit. Die Welt ist Sünde, der Mensch ist Sünder. Das meint zunächst: Welt und Mensch sind ganz anders als Gott. Das meint zudem: Menschliche Rationalität und Sinnlichkeit sind nicht göttlich. Sie bieten noch nicht einmal Zugänge zum Göttlichen. Sie sind vielmehr Erscheinungsformen der Sünde. Das bedeutet wiederum: Religion und Moral, alle Bemühungen, sich innerweltlich an irgendetwas Höheres oder Allgemeines zu binden, bringen nichts Göttliches hervor oder werden dem Göttlichen irgendwie gerecht. Noch nicht einmal analogisch. Noch nicht einmal annähernd. Religion und Moral sind pure Immanenz, also Äußerungen der Sünde.

Sonntag, 17. April 2016

60

Als Kind wollte ich nie in den Himmel. Ich hatte Angst vor der Langeweile. Heute würde ich die kindliche Intuition theologisch aufgeklärt zuspitzen: Wenn der Himmel auch nur die geringste Ähnlichkeit hat mit der Weltwirklichkeit, dann ist mir das vorgeburtliche Nichts lieber.

59

Konfirmationsgottesdienst in einer lutherischen Kirche in Oberbayern. Fürchterlich. Weder Fisch noch Fleisch. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Zur theologisch-kultischen Melange kommt die religiöse Virtualität. Mehr substanzloses Theater geht nicht.

Samstag, 16. April 2016

58

Jede Straßenkreuzung, vor allem jede Verkehrssituation, in der das, was zu tun oder zu lassen ist, sich nicht unmittelbar erschließt, erinnert mich daran, dass unser Zusammenleben irgendwie koordiniert werden muss. Gesetz und Recht, die wir zu diesem Zweck gebrauchen, sind gewachsen aus der religiös-metaphysischen Tradition, haben also repräsentativen Charakter. Sie formulieren Gültigkeiten, aus denen wir Ansprüche ableiten – Ansprüche, mit deren Hilfe wir etwas einfordern oder die es uns ermöglichen, fremde Ansprüche zurückzuweisen. Gesetz und Recht, wie wir sie kennen und anwenden, sind demnach ihrem Wesen nach konfrontativ, auf Streit oder gar auf Krieg angelegt. Lassen sich Gesetz und Recht auch reservativ denken? Lassen sie sich als Ungültigkeiten begreifen, die uns gerade nicht dazu zwingen, unser Zusammenleben in der Mechanik von Anspruchsdurchsetzung und Anspruchsabwehr zu kordinieren? Lassen sie sich als Formulierung einer im besten Sinne des Wortes not-wendigen Gabe verstehen, die selbst wiederum nicht Pflicht ist?

Freitag, 15. April 2016

57

Es gibt analoge Strukturen im jüdischen, im islamischen, im calvinisch-reformatorischen und im kantisch-idealistischen Denken.

Donnerstag, 14. April 2016

56

Religiöse und metaphysische Wirklichkeitsinterpretationen münden immer in Bemühungen um Transzendenzrealisierung. Es werden ganz unterschiedliche Verhältnisbestimmungen zwischen Transzendenz und Immanenz vorgenommen, zuletzt aber geht es immer darum, wie wir in der Weltwirklichkeit dem transzendenten Anspruch gerecht werden können. Keine andere religiöse und keine andere metaphysische Interpretation der Weltwirklichkeit ist allerdings so massiv mit Erwartungen und transzendentem Druck aufgeladen, wie die christliche. In keiner anderen Interpretation wird so stark betont, Versöhnung und Einheit von Transzendenz und Immanenz seien möglich. In keiner anderen Interpretation wird so massiv gefordert, Versöhnung und Einheit von Transzendenz und Immanenz seien praktisch zu realisieren.

Mittwoch, 13. April 2016

55

Das frühe Christentum muss eine Antwort darauf geben, welche Relevanz es für eine offenbar doch nicht endende Weltwirklichkeit haben kann. Diese Antwort wird hineinformuliert in die sich verschärfende weltanschauliche und politische Krise der späten Antike. Sie soll die Christen nicht nur existenziell sichern, sondern ihnen zudem die Möglichkeit eröffnen, Geltung und Anerkennung zu finden. Das Christentum als Antwort beendet die Zeit des paulinischen Wartens. Der Messias wird zum Christus uminterpretiert, die Realisierung des Heils der Weltwirklichkeit wird nicht mehr bloß erhofft, sondern religiös-politisch angepackt.

Dienstag, 12. April 2016

54

Die paulinische Interpretation dessen, was Sünde ist, findet sich vor allem im Römerbrief. Paulus greift hier in seinen ersten Annäherungsversuchen auch auf Begriffe und Bilder zurück, die sich durchaus noch repräsentativ und damit traditionell verstehen lassen. Im Licht des reservativen als ob nicht deutet sich jedoch an, dass Paulus gerade jene religiösen (theologischen) und metaphysischen (philosophischen) Traditionen hinter sich zu lassen versucht, aus denen später das Christentum hervorgehen wird.

Montag, 11. April 2016

53

Es gibt einige Begriffe der christlich-religiösen Tradition, an deren Verwendung wohl auch künftig kein Weg vorbeiführt – die allerdings nachdrücklich uminterpretiert werden müssen, wenn sie uns noch einmal weiterhelfen sollen. Was meint zum Beispiel der Begriff Sünde? Genauer: Was assoziieren und verstehen wir, wenn wir den Begriff Sünde hören?

Sonntag, 10. April 2016

52

Weiß noch jemand, wie das geht: bedingungslos für jemanden da sein, selbst wenn das bedeutet, sich selbst loszulassen (Joh 15,13)? Im gegenwärtigen Nihilismus, in der Gleich-Gültigkeit unserer Gegenwart ist offenbar, dass Haltung und Praxis dessen, was Liebe genannt werden kann, sich auf nichts zuverlässig gründen lässt, was wirklich ist. Nicht auf Gefühl und nicht auf Vernunft.

Samstag, 9. April 2016

51

Todestag Bonhoeffers. Ich mag keine Fest-, Feier- oder Gedenktage. Entweder wird etwas oder jemand Bedeutungsloses gefeiert, oder man entlastet sich an diesen Tagen davon, das oder den, was oder der gefeiert wird, alltäglich bedeutsam sein zu lassen. Besonders unangenehm sind mir Gottesdienste und eigene Geburtstage.

Freitag, 8. April 2016

50

„Lass dir an meiner Gnade genügen. Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2 Kor 12,9). Kaum ein paulinischer Satz ist schwerer zu ertragen als dieser.

Donnerstag, 7. April 2016

49

Seit Jahren wird im deutschen Pop wieder deutsch gesungen. Das Schlimme daran ist: Man versteht die Texte unmittelbar. Vorhin im Auto wieder einmal EFF, das neue Pop-Duo mit seiner Debütsingle.

Mittwoch, 6. April 2016

48

Ideengeschichtlich scheint es nicht unerheblich, dass sich das islamische Denken nach seiner Blütezeit im späten Mittelalter vom abendländischen Diskurs abzukoppeln beginnt – also ausgerechnet in dem Augenblick, in dem die Hochscholastik erste Grundlagen schafft für Reformation und Aufklärung. Angesichts dessen wird hier und da die Forderung formuliert, der Islam müsse Reformation und Aufklärung gewissermaßen nachholen.

Dienstag, 5. April 2016

47

Im Anschluss an den Religionsphilosophen Jacob Taubes lässt sich eine spannende Entwicklungsdynamik beobachten, die messianischen Wirklichkeitsinterpretationen eigentümlich zu sein scheint.

Montag, 4. April 2016

46

Der populäre linke Philosoph Slavoj Žižek ist dafür bekannt, dass er gerne auf vulgäre Witze zurückgreift, um psychoanalytische oder politische Diagnosen zu stellen. Einer dieser Witze berichtet von einer Begebenheit aus dem von Mongolen besetzten Russland des 14. Jahrhunderts.

Samstag, 2. April 2016

45

Ich will einen ersten Versuch unternehmen, mich der Bestimmung wesentlicher Begriffe meines Blogs – messianisch, reservativ, abrahamitisch – kurz anzunähern.

Freitag, 1. April 2016

44

Es „gibt“ nur eine Wahrheit: die Wahrheit, dass es keine Wahrheit „gibt“, oder anders: die Wahrheit, dass alle Wahrheiten, die es „gibt“, gleich-gültig sind (Kreuz). Eine zweite Wahrheit „gibt“ es nicht, sie muss vielmehr glaubend gewagt werden. Die Wahrheit nämlich, dass alle Wahrheiten, die es „gibt“, gleichermaßen als aufgehoben und überwunden gelten können, oder anders: dass alle Wahrheiten, die es „gibt“, als gleich-ungültig interpretiert werden dürfen (Auferstehung).

43

Alles Leben ist Problemlösen (Karl Popper) – und Enttäuschungsbewältigung.

Donnerstag, 31. März 2016

42

Die abendländische Säkularität ist ein einzigartiges Phänomen. Nirgendwo sonst wird die Weltwirklichkeit so transzendenzvergessen wahrgenommen und bearbeitet, wie auf dem alten Kontinent Europa.

Donnerstag, 24. März 2016

41

Sich bestimmten Ruhe-, Feier- und Festtagen aus religiösen Gründen zu unterwerfen, ist unnötiger Götzendienst – so, wie es Götzendienst ist, sich bestimmten Texten, Dogmen, Ethiken, Verfassungen, Institutionen oder Menschen zu unterwerfen. Allerdings ist es aus anthropologischen Gründen durchaus hilfreich, bestimmte Regelmäßigkeiten und Wiederholungen zu pflegen, solange wir diese so einrichten und gebrauchen, dass sie sich nicht verselbständigen und sich unserer bemächtigen.

Mittwoch, 23. März 2016

40

Es ist ein bemerkenswertes Ereignis, dass Derridas Dekonstruktion die Erneuerung paulinischen Denkens provoziert – und dies nicht etwa in der Theologie, sondern in der französischen und italienischen politischen Philosophie. Kant entdeckt in der Theologie den „stolzen Anspruch“, die Philosophie sei bloß „ihre Magd“ – und fügt dieser Beobachtung die bissige Frage bei, ob die Philosophie wohl „ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt“. Was Paulus betrifft, so wäre zu wünschen, dass sich die politische Philosophie als Fackelträgerin erweisen würde. Dies aber nicht im Dienste einer schlichten Neuauflage paulinischer Theologie in der Gegenwart – dafür ist der „garstige Graben“ (Gotthold E. Lessing) zwischen Paulus und uns doch zu breit und zu tief. Es bedarf vielmehr einer Neuaneignung paulinischer Denkstrukturen unter den Interpretations- und Lebensbedingungen des 21. Jahrhunderts – also eines reformatorischen Aktes, der vergleichbar ist mit dem des 16. Jahrhunderts. Dazu einige vorläufige häretische Thesen.

Dienstag, 22. März 2016

39

Mein Denkweg nach dem Ende eines transzendenten Gottes, den es „gibt“, führt in der Gottesfinsternis von Bonhoeffers Religionslosigkeit über Derridas Dekonstruktion zurück zu Paulus. Wie das?

38

Die Furcht Gottes ist der Weisheit Anfang - aber auch ihr Ende.

37

Da haben wir doch einen Studenten in der mündlichen Prüfung tatsächlich "auf dem völlig falschen Schlauch erwischt"!

Montag, 21. März 2016

36

Der katholische Theologe Karl Rahner hat gegen Bonhoeffers ohnmächtigen und mitleidenden Gott vorgebracht, dass ein Gott, dem es offenbar „genauso dreckig geht“ wie uns, kaum noch wirklichkeitsrelevant sein kann. Damit ist ganz richtig gesehen, dass uns der Verzicht auf positive Gültigkeitsbeziehungen zwischen Transzendenz und Immanenz hineinführt in Offenheit und Schwäche. Beides verschärft sich in Derridas Dekonstruktion, da hier nicht allein, wie schon bei Kant, die Weltwirklichkeit gegenüber transzendenten Gründen und Verheißungen abgeschlossen ist, sondern weil hier, in einem nächsten Aufklärungsakt, überdies alle bevollmächtigenden säkularen Ideale entzaubert sind.

Sonntag, 20. März 2016

35

Dass über Derridas Dekonstruktion hinausgedacht werden muss, gilt für mich als ausgemacht. Mit ihren Göttern und Ideen versuchen Religion und Metaphysik, das in der Vernunft Vernommene sinnstiftend zu erklären, ihm Anfang und Ziel, Grund und Verheißung zu geben. Auf die eine oder andere Weise vermitteln sie dabei zwischen verschiedenen Vorstellungen von Transzendenz und Immanenz. Irgendein Verhältnis zwischen „jenseits“ und „diesseits“, zwischen „oben“ und „unten“ soll den an sich chaotischen Erscheinungen der Weltwirklichkeit Struktur verleihen und der menschlichen Existenz Halt und Orientierung bieten. Diese Stabilisierungsversuche sind mit Derridas Dekonstruktion überwunden. Das stählerne Gehäuse der Weltwirklichkeit ist endgültig verschlossen, die einzig verbleibende Wirklichkeit ist entgöttert und damit sinnentleert.

Samstag, 19. März 2016

34

Bonhoeffers Religionslosigkeit ist eine erste Annäherung an den Versuch, Gott jenseits des Scheiterns der säkularen Rekonstruktion des christlichen Gottes in der Moderne zu behaupten. Auf der Linie dieses Versuches schreitet gerade nicht die noch ganz moderne Gott-ist-tot-Bewegung voran, sondern vielmehr die französische Nachkriegs-Phänomenologie. Der Philosoph Dominique Janicaud hat auf eine darin vollzogene „theologische Wende“ aufmerksam gemacht. Diese Wende lässt sich auch zurückführen auf starke Impulse aus dem jüdisch inspirierten politischen Denken nach Auschwitz.

Freitag, 18. März 2016

33

Das ist der Lauf der Dinge: Die sichtbaren Götter, alles, woran wir uns in der Weltwirklichkeit mit Vernunft oder Gefühl hängen und was gerade darin Macht gewinnt über uns, verliert früher oder später seinen Reiz, offenbart sich als enttäuschend anders oder kommt an sein natürliches, manchmal allzu unappetitliches Ende: das unbedingt notwendige neue Kleidungsstück, das Glück mit einem neuen Partner, die großen beruflichen Ziele, der Traum von globalem Frieden und Wohlstand.

Donnerstag, 17. März 2016

32

Gestern Abend, der Augenblick ist gekommen: Der Bachelor wählt endlich die Dame, die zu seinem Herzen gesprochen hat, bei der er plötzlich schon von Beginn an gewusst haben will, dass da etwas Besonderes sein muss. Echt? Nun könnte man zunächst die Frage stellen, warum der FC Bayern, der sich gleichzeitig gegen Juventus Turin durch das Champions League Viertelfinale quält, erst Tore zu schießen beginnt, nachdem der Bachelor seine Entscheidung getroffen hat. War das etwa geplant? Sollten die Quoten gesichert werden? Also erst was für's Frauenherz, dann was für die Männerseele – ganz ohne Streit um die Fernbedienung?

Mittwoch, 16. März 2016

31

Jedes halbwegs geschickt eingerichtete religiöse oder metaphysische System lässt den Zweifel als Anomalie zu. Durch die Integration des Zweifels werden Systeme nachhaltiger.

Dienstag, 15. März 2016

30

„Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ Diese frühe Intuition Bonhoeffers, formuliert in seiner Habilitationsschrift „Akt und Sein“ (1930), kann zunächst ganz traditionell christlich gedeutet werden. Selbstverständlich weiß die gesamte christliche Theologie, dass Gott (auch) anders ist, dass er in der Weltwirklichkeit nicht aufgeht. Insofern „gibt“ es ihn nicht einfach. Auch kennt das christliche Denken breite und einflussreiche Strömungen negativer Theologie, in denen die Annäherung an Gott gerade in der Betonung seines Anderssein versucht wird.

Montag, 14. März 2016

29

Manchmal muss man das Kind mit dem Bade ausschütten, um es vor dem Ertrinken zu retten.

28

Eine erste psychoanalytische Aufklärung: Aufgewachsen bin ich in einem durchaus schillernden frommen Milieu, das man im weitesten Sinne als evangelikal bezeichnen kann. Die frühe bewusste Zeit meines Lebens habe ich in einem christlichen Freizeit- und Ferienheim verbracht, dessen Aufbau und Leitung mein Vater übernahm, als ich knapp zwei Jahre alt war. Das Heim lag auf einem leichten einsamen Hügel, umgeben von herrlich weitläufigen Wiesen und Wäldern. Etwas abgesetzt im Tal gab es ein kleines 250-Seelen-Dorf.

Sonntag, 13. März 2016

27

Der alles entscheidende Augenblick, in dem sich der sichtbare Gott endgültig entzieht, ist unübertroffen simuliert in der berühmten Construct-Szene des ersten Teils der Matrix-Trilogie. Ihr ist das Symbol meines Blogs entnommen. Neo kann der Wahrheit nicht länger ausweichen, dass seine bisherigen Wirklichkeitswahrnehmungen und -interpretationen pure Illusion sind. Die reale Realität ist erschreckende Finsternis: „Welcome to the Desert of the Real.“
Dieser Augenblick, der Jahre währen kann, ist gefährlich. Es drohen Verzweiflung, mystische Uminterpretation oder der totale Verfall an die Götter der Scheinwirklichkeit. In diesem Augenblick entscheidet sich, ob das alte Wort vom Kreuz verwässert, verworfen oder vollmächtig wird. Fromme Selbsttäuschung, Sklaverei oder Glaube und Kampf.
In der Kälte dieses Augenblicks hilft nur eine gehörige Portion reformatorischen Starrsinns: „Lieber noch ein wenig zähneklappern, als Götzen anbeten“ (Nietzsche).

Samstag, 12. März 2016

26

Zwischen Luther und Calvin brechen die Epochen. Für Luther ist die Weltwirklichkeit noch religiös aufgeladen. Im Streit der sichtbaren und unsichtbaren Mächte, die in ihm und um ihn herum wirken, ist er zutiefst besorgt, wie er sich Gott nähern und in seiner Nähe halten kann. Luther sucht nach dem gerechten Gott, dem er selbst gerecht werden kann, findet allerdings den rechtfertigenden Gott, dem kein Mensch gerecht ist – dem aber auch niemand gerecht werden muss, weil er selbst gerecht macht. In dieser reformulierten Verhältnisbestimmung von Transzendenz und Immanenz halten sich noch zahlreiche religiöse Interpretationsmuster, aber es ist erstaunlich, wie viel Christentum darin bereits verabschiedet und wie viel paulinischer Messianismus zurückgewonnen ist.

Freitag, 11. März 2016

25

Alle Zeiten haben ihre eigenen Weltanschauungen und Weltgestaltungsversuche. Immer gibt es auch Skeptiker oder Abweichler, aber insgesamt erweisen sich bestimmte Weltanschauungen und entsprechende Weisen, die sich stellenden Probleme zu lösen, zum jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt als erfolgreich, akzeptiert und dominant.

Donnerstag, 10. März 2016

24

Seit etwa drei Jahrzehnten wird in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine „Wiederkehr der Religion“ beobachtet und bearbeitet.

Mittwoch, 9. März 2016

23

Alles Denken, alles Reflektieren ist der Versuch, sich in Raum und Zeit zu orientieren und möglichst zu befestigen.

22

Gestern Abend: großer Organspende- und Transplantationsabend auf SAT 1. Dazu der Film "Zwei Leben. Eine Hoffnung", vollgestopft mit sogenannten ethischen Dilemmata. Gemeint sind ausweglose Pflichtenkollisionen, in denen die eine wie die andere Entscheidung als gut oder als böse, als richtig oder als falsch wahrgenommen werden kann - abhängig davon, welche Perspektive eingenommen wird. In seiner Botschaft ist der Film allerdings eindeutig: Organspendeausweis besorgen und ausfüllen. Nun ja - wenn diese elenden Pflichtenkollisionen nicht wären...

Dienstag, 8. März 2016

21

Spätestens seit 1945 hat das Abendland damit begonnen, die Welt nach modernen politischen Vorstellungen einzurichten. Als Ideale gelten der säkular-liberale Rechtsstaat und die demokratische Regierungstechnik. Mit dem Ende des Kalten Krieges scheinen die letzten totalitären Systeme überwunden, und bloß noch ein paar wild gewordene Islamisten bereiten Probleme. Wenn diese jedoch eingefangen sind, dann könnten alle weltpolitischen Konflikte grundsätzlich gelöst und das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) könnte gekommen sein.

Montag, 7. März 2016

20

Der Zugang zum paulinischen Messianismus ist uns durch verschiedene Umstände erschwert.

Sonntag, 6. März 2016

19

In vorsäkularer, religiöser Zeit werden Glaube und Vernunft insofern als Einheit wahrgenommen, als dass das Göttliche selbstverständlich als das der Weltwirklichkeit Vorausliegende, die Weltwirklichkeit Bestimmende und sie Durchdringende gilt. Göttliches und Wirkliches werden ganz unterschiedlich vorgestellt, ebenso die Verbindung zwischen beiden. Manche sehen das Göttliche eher in den Ideen der Vernunft, andere eher in den natürlichen Erscheinungen abgebildet. Immer aber verstehen sich Glaube und Vernunft als komplementäre Interpretationseinheit, die beide gemeinsam darum ringen, wie das Göttliche im Wirklichen und damit das Wohl von Welt und Mensch zu realisieren sei. Dabei nennt die Theologie das Vorausliegende Gott, die Philosophie spricht eher unpersönlich von Metaphysik.

Samstag, 5. März 2016

18

Rudolf Bultmanns theologisch begründetes Entmythologisierungsprogramm hat nicht nur den biblischen Texten, sondern religiösen (Offenbarungs-)Texten überhaupt jede hermeneutische Tiefe und damit alle geheimnisvolle „Herrlichkeit“ (Karl Jaspers) genommen.

17

Wenn wir von Selbstbewusstsein sprechen, dann meinen wir üblicherweise, dass Menschen sich ihres Wertes, ihrer Besonderheiten und Stärken bewusst sind. In einer ermutigenden Wendung dieses Begriffs wollen wir dann deutlich machen, dass Menschen ihr Selbstbewusstsein in Haltung und Handlung ausdrücken und ihre damit verbundenen Ziele verwirklichen sollen. Also: "werde, der Du bist".

Freitag, 4. März 2016

16

Es ist nicht unerheblich, dass das frühe Christentum in weltanschauliche und politische Krisen hinein entwickelt wird. Das antike Denken und seine Verheißungen verlieren ihre Überzeugungskraft, die politische Weltordnung als Pax Romana wird brüchig. In diesem Verfallsprozess bietet sich die neue Religion zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert zunehmend als Zuflucht und Rettung an.

15

Nach dem Damaskus-Ereignis zieht Paulus sich erst einmal mehr als 10 Jahre aus der Öffentlichkeit zurück. Von dieser Zeit wissen wir nichts - bis auf die wenigen kryptischen Andeutungen, die Paulus später in seinen Briefen hinterlässt.

Donnerstag, 3. März 2016

14

Eine andere Analogie zwischen Isaak und Jesus, Morija und Golgatha lässt sich denken: Abraham hat nicht im Glauben damit gerechnet, dass er Isaak letztlich doch nicht opfern müsste. Er hat ihn wirklich glaubend geopfert, während er zugleich glaubend ins nun wieder völlig Unbestimmte hinein an der Erfüllung göttlicher Verheißung festhielt. Als Gleichnis dafür, dass das Verheißene tatsächlich etwas ganz anderes ist, als das in der Weltwirklichkeit Empfangene, wurde ihm Isaak wiedergegeben (Jak 2,21; Hebr 11,17-19).

Mittwoch, 2. März 2016

13

Das Christentum hat uns an eine eigentümliche Pointierung des messianischen Ereignisses gewöhnt: Es gibt insofern eine Analogie zwischen Isaak und Jesus, Morija und Golgatha, als dass nach diesen Ereignissen das Verheißene in der Weltwirklichkeit (wieder) empfangen werden darf. Nach Jesus, so sagt man uns, ist der reale Empfang des Verheißenen sogar ohne jedes weitere Opfer möglich. Und mehr noch: Über die jüdische Vorstellung hinausgehend wird das Verheißene nicht nur ganz weltlich gedacht. Inkarnationstheologisch wird sogar das Göttliche im Weltwirklichen als kommend behauptet. Würde Paulus mit dieser Idee konfrontiert, er würde ihr ins Angesicht widerstehen.


Dienstag, 1. März 2016

12

Wie kann es gelingen, einen Anderen von meiner eigenen Interpretation der Wirklichkeit zu überzeugen?

11

Es kommt nicht von ungefähr, dass Pippi Langstrumpf allein in einem Haus am Rande einer namenlosen Stadt wohnt. Sag Deinen Kindern "Sei Du selbst" (was auch immer das ist) - dann füllst Du die Welt mit bunten, aber einsamen und unzuverlässigen Langstrümpfen.

Montag, 29. Februar 2016

10

Gestern früh, wieder beim Bäcker. Dieses Mal bedient mich ein junger Mann. Wie üblich, bestelle ich die weiße Semmel, ohne genauer anzugeben, wie sie aussehen und beschaffen sein soll. Während der Herr hinter sich in die Kiste greift, flötet mir Andreas Bourani aus dem Lautsprecher im Laden seine Weltmeisterschaftshymne ins Ohr: „Und solange unsere Herzen uns steuern, wird das auch immer so sein. Ein Hoch auf das, was vor uns liegt, dass es das Beste für uns gibt…“. Ganz kurz denke ich darüber nach, was das wohl für meine Semmelbestellung bedeuten könnte: Soll ich den netten Bäckereifachverkäufer mal fest in meine Armee schließen? Oder soll ich ihn doch eher von der Semmelkiste wegdrängen und selbst nach der Semmel meines Herzens suchen?

09

Die Wirklichkeit übt heute gerade auch in ihren Virtualisierungen eine erschreckende und destruktive Macht aus. Der Kultursoziologe Max Weber formuliert zu Beginn des 20. Jahrhunderts geradezu prophetisch: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“

Sonntag, 28. Februar 2016

08

Auch die Religion funktioniert heute im Topmodel-Modus - bis hinein in die Gottesdienste. Besonders deutlich lässt sich das an dem demonstrieren, was wieder einmal aus der virtuellen US-Kultur zu uns hinübergeschwappt ist: am Trend zum Worship oder Lobpreis.

Samstag, 27. Februar 2016

07

Wie verständigen wir uns eigentlich? Wie tauschen wir unsere Vernünftigkeiten, unsere Interpretationen aus? Durch das, was wir Sprache nennen. Was tauschen wir da aus?

06

Von einer Illusion müssen wir uns verabschieden: dass die einzelnen oder allgemeinen Interpretationen, die wir zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort pflegen, Wahrheit seien. Unsere Interpretationen sind immer nur Symptom, und wichtiger, als die Suche nach Wahrheit, ist die Diagnose, wofür wir und unsere Interpretationen Symptom sind. Allerdings: Unsere Diagnosen sind ja selbst wiederum bloß Interpretationen. Nun kann man gerade diese Offenheit als Wahrheit begreifen und darin zu verharren versuchen. Aber kann uns das tatsächlich gelingen? Können wir so leben? Oder brauchen wir nicht doch so etwas wie Schließungen? Wenn ja - welche schließende Interpretation unserer Interpretationen ist möglich und hilfreich?



Freitag, 26. Februar 2016

05

"Hallo Mädchen!" Heidi gibt mal wieder den emphatischen Drill Instructor. "Na, geht's euch gut? Seid Ihr happy? Du siehst so edgy aus! Machst Du, was ich von Dir will? Nein? Moment, ich muss kurz telefonieren - das Ticket für Deinen Heimflug buchen." Einfach Abschalten? Nein. Anschauen, nachdenken, Diagnose stellen. Wirklichkeit durchschaue ich nicht, indem ich wegschaue.

Donnerstag, 25. Februar 2016

04

Was hält uns eigentlich zusammen? Oder besser: Was soll uns verbinden? Kant spricht von der ungeselligen Geselligkeit der Menschen. Offenbar können wir nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander leben. Worauf setzen wir nun in diesem Widerstreit?

Mittwoch, 24. Februar 2016

03

Arbeite gerade noch einmal an Kierkegaards "Furcht und Zittern". Leseempfehlung, gut in dieser Ausgabe (erscheint 2016 als Neuauflage). Warnung: Wen das Buch auf dem falschen Fuß erwischt, der muss sich warm anziehen ;-)

02

Die Interpretationen, durch die hindurch wir die Wirklichkeit wahrnehmen und einschätzen, sind vielfältig bedingt: durch unsere genetische Disposition, durch das unmittelbare Milieu, in dem wir aufgewachsen sind, durch unsere Erfahrungen, also die unzähligen Traumata, die Eindrücke des Glücks oder des Leids in uns hinterlassen haben. Linguistic turn und cultural turn in den Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts haben uns darauf aufmerksam gemacht, wie stark unsere Vernünftigkeiten abhängig sind vom kulturellen Kontext und von der Sprache, in denen uns Wirklichkeit vermittelt wird. Besonders unangenehm ist uns die Entdeckung des Unbewussten durch die Psychoanalyse. Insgesamt scheint es angesichts dieser Vorbedingungen geradezu lächerlich, von Freiheit im Denken und Handeln zu sprechen - was ja unmittelbar auch unsere Vorstellung möglicher Macht über die Wirklichkeit in Frage stellt. Dazu wird noch manches zu formulieren sein.

Dienstag, 23. Februar 2016

01

Die Wirklichkeit erweist sich als widerständig: Die Kaffeebohne, die morgens beim Auffüllen der Kaffeemaschine daneben- und unter den Tisch fällt. Das kränkliche Krächzen am Frühstückstisch, das uns auffordert, die Pläne für den Tag fallen zu lassen. Der Motor, der nicht startet, der Bus, der schon weg ist. Die Menschen, die so anders sind als wir, denen wir aber nicht ausweichen können, weil wir von ihnen abhängig sind. Die Lebensziele, von denen wir irgendwann ablassen müssen, weil die Zeit über sie hinweggeschritten ist. Die kleinen und großen Katastrophen, die das Leben in seinem Gang behindern oder gar radikal wenden.