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Sonntag, 19. Juni 2016

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Reservativer Gottesdienst ist wirklichkeitsfreier Wirklichkeitsdienst. Dieser Dienst lässt sich zunächst denken als Gottesdienst des Einzelnen an sich selbst. Vorzustellen ist dabei das reservative Subjekt, dass sich selbst einer reservativen Selbstinterpretation, einer reservativen Selbsthaltung und einer reservativen Selbstpraxis unterwirft. Hier nimmt alles seinen Anfang. Vom reservativen Subjekt, dass sich selbst so begreift und sich selbst so gebraucht, als wäre es der Sünde gestorben (Röm 6,11), geht alles Weitere aus, hängt alles Weitere ab.

Das reservative Subjekt muss vor allem erwogen werden in seinem Verhältnis zu repräsentativ denkenden und handelnden Gültigkeitssubjekten. Das ist seine Regel, das ist sein Alltag, denn das reservative Subjekt ist (derzeit) zweifellos Ausnahmeexistenz. Es lässt sich nicht herstellen oder gar fordern. Es ist und wird – oder eben nicht. Nullitas aliena.

„Christen wohnen fern voneinander“ (Luther). Reservative Subjekte finden noch seltener zusammen. Dessen ungeachtet lässt sich eine (Ausnahme-)Gemeinschaft reservativer Subjekte denken – zunächst als Binnenverhältnis, als Verhältnis der Ungültigkeitsglaubenden zueinander, dann aber auch als Außenverhältnis, als Verhältnis reservativer Glaubensgemeinschaft insbesondere zu der sie umgebenden politischen Gemeinschaft.

Und schließlich, so meine These, lässt sich reservativer Gottesdienst auch als Politik, lässt sich reservative Glaubensgemeinschaft auch als politische Gemeinschaft (ekklēsía) verstehen. Hier liegt die größte Herausforderung reservativer Wirklichkeitsinterpretation. Neuland ist zu erschließen. Reservation als Politik darf einerseits nicht zurückfallen in die repräsentative Politik von Religion und Metaphysik, muss aber zugleich die (vermeintliche) Trennung von Glaube und Politik in der säkularen Moderne überwinden, muss also eine postsäkulare und doch nicht-repräsentative Vorstellung von Politik zu entwerfen versuchen.

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