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Montag, 2. Mai 2016

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Im Verlauf der (Selbst-)Transformation des christlichen Gottes geht uns die zweite Dimension verloren, der Zugriff auf eine Interpretationsdimension „jenseits“ des chaotischen Stroms der Wirklichkeitsgeschehnisse. Damit wird uns zugleich die Möglichkeit genommen, auf sichere, unbedingt und allgemein gültige Wahrheiten des Denkens und Handelns zurückzugreifen und diese als Folie über die verwirrende Weltwirklichkeit zu legen. Die Weltwirklichkeit verliert ihren allgemeinen Sinn und lässt sich auch nicht mehr diesem Sinn gemäß anordnen. Gott hat seinen Platz geräumt.

Denken und Handeln tendieren daher heute zur nihilistischen Gleich-Gültigkeit. Sie ordnen sich keinen sicheren, unbedingt und allgemein gültigen Wahrheiten mehr unter und postulieren damit eine neue allgemeine Gültigkeit: die Gleich-Gültigkeit aller Gültigkeiten. Üblicherweise bezeichnen wir dieses Postulat mit dem Begriff der Pluralisierung. Es ist nicht weniger universalistisch und totalitär als die alten transzendenten oder transzendentalen Postulate. Es nötigt dazu, alle Geltungsansprüche rücksichtslos auszuschließen, die sich der Gleich-Gültigkeit nicht unterordnen oder sich ihr gar entgegen stellen wollen.
Implementiert wird das Postulat der Gleich-Gültigkeit durch die mittlerweile im globalen Maßstab betriebene Politik der Menschenwürde und des Menschenrechts. Theologen und Philosophen, die noch weitgehend im modernen Denken verhaftet sind, sehen darin die vielversprechende Realisierung wesentlicher Gültigkeitsforderungen. Doch das ist eine tragische Täuschung. Die moderne Idee von Menschenwürde und Menschenrecht ist unter der Herrschaft des modernen als ob Gottes geboren. Nach dem Tod dieses Gottes kann ihre politische Implementierung auf nichts anderes hinauslaufen, als auf die globale Vernichtung allgemeiner Gültigkeiten.
Das politische Denken, das den Prozess globaler Vergleichgültigung begleitet, stützt sich – bei allen Unterschieden – auf vergleichbare Voraussetzungen:

1) Das gegenwärtige politische Denken ist nach wie vor Gültigkeitsdenken. Es setzt immer noch auf formale oder materiale Gültigkeiten und auf deren möglichen Ausgleich.

2) Die Eigenmacht der von der Moderne und ihrem als ob Gott angestoßenen politischen, sozialen, ökonomischen und technischen Dynamik wird (gerade in Deutschland) insgesamt unterschätzt. Nicht Wenige glauben noch an die Möglichkeit von Steuerung, Korrektur oder gar Unterbrechung.

3) Die Last der Verantwortung wird dabei zunehmend auf den einzelnen Menschen abgewälzt. Im Hintergrund wirkt hier immer noch das moderne Bild vom mündigen, also selbst- und wirklichkeitsmächtigen Subjekt. Doch einerseits hat der als ob Gott, den dieses Bild voraussetzt, längst abgedankt. Andererseits bleibt die Leerstelle, die dieser Gott hinterlässt, im einzelnen Menschen nicht leer. Sie wird nun unkontrollierbar besetzt und umkämpft von verflüssigten und pluralisierten Gültigkeiten.

4) Angesichts der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) bleibt dem politischen Denken kaum etwas anderes übrig, als auf irgendeine (verborgen) den Geschehnissen und Prozessen innenwohnende Harmonie zu setzen, auf die Annahme einer irgendwie sich herstellenden oder irgendwie herzustellenden (Neu-)Ordnung der Dinge.

Ich selbst bin davon überzeugt, dass wir diese und ähnliche Voraussetzungen rasch aufgeben und unsere politischen Wirklichkeitsinterpretationen entschlossen darüber hinaus treiben müssen. Die potenziellen und tatsächlichen Konfrontationen zwischen den global sich pluralisierenden Gültigkeiten nehmen zu, und kein Gültigkeitsdenken kann dagegen etwas ausrichten. Ich sehe die politische und soziale Welt in den Zustand hineintreiben, von dem die Moderne verheißen hatte, sie werde ihn dauerhaft überwinden: in den nicht mehr bloß fiktiven, sondern in den faktischen Zustand des Krieges aller gegen alle. Wir haben unser Denken und Leben im christlichen Abendland auf überladen verheißungsvolle Gültigkeiten gegründet. Die dramatischen Folgen dieses Fehlers holen uns heute ein. Der glanzvolle Katechon enthüllt sich als der chaotisierende Anomos. Am Karsamstag unserer politischen und sozialen Weltwirklichkeit wird die Torheit des Kreuzes Realität: das Ende der Transzendenz und ihrer Gültigkeiten (Gesetze), die totale Gottverlassenheit der Weltwirklichkeit, die totale Herrschaft der unzähligen Wirklichkeitsgötter.
Was wir in dieser Lage vor allem ausfindig machen müssen, ist eine Uminterpretation der Weltwirklichkeit, die es uns ermöglich, uns der Eigenmacht und Dynamik der mittlerweile zügellosen und enthemmten Weltwirklichkeit zu entziehen – nun aber nicht mehr unter Rückgriff auf transzendente oder transzendentale Gültigkeiten. Gerade diese Uminterpretation aber ist es, die sich bei Paulus neu entdecken lässt. Paulus stützt sein Denken und Leben jenseits des Kreuzes nicht mehr auf Gültigkeiten. Er setzt auf eine radikale Auferstehungsinterpretation als Ungültigkeitsinterpretation. Damit bereitet er eine (Selbst-)Transformation Gottes vor, die heute wirklichkeitsrelevant werden kann: die Transformation hin zu einem Gott des als ob nicht der Weltwirklichkeit.

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