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Dienstag, 1. März 2016

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Wie kann es gelingen, einen Anderen von meiner eigenen Interpretation der Wirklichkeit zu überzeugen?

Dietrich Bonhoeffer behauptet im Anschluss an Søren Kierkegaard, „daß eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist“. Wenn das richtig ist, dann sind meine eigenen Interpretationen immer Ergebnis meiner eigenen Existenz, und in einem Anderen werden nur jene Interpretationen heranwachsen können, die ihm seine jeweilige Existenz eröffnet. Nun gibt es zweifellos geteilte Kontexte, die zumindest eine gewisse Nähe von Interpretationen ermöglichen. Aber Identität von Interpretationen lässt sich keinesfalls herstellen. Hinzu kommt, dass sich im Prozess der Globalisierung verlässlich geteilte Kontexte zunehmend auflösen. Wie soll da so etwas wie wechselseitige Überzeugung noch möglich sein? Insgesamt scheint mir das gegenwärtige politische Denken gerade in Deutschland noch allzu hoffnungsfroh: Es setzt zumeist auf vorhandene gemeinsame oder diskursiv angenäherte Interpretationen, die unsere werdende Existenz gar nicht mehr hergibt. Allenfalls lassen sich noch instrumentelle Interpretationen teilen, also technische oder ökonomische Zweckrationalitäten. Hier scheinen die Ursache-Wirkungs-Verkettungen und die daran geknüpften Erfolgserwartungen noch einigermaßen universalisierbar. Vermutlich sind Technik und Ökonomie gerade deswegen so dominant und mitreißend geworden, weil wir wenigstens in ihrem vermeintlichen Fortschritt noch zusammenfinden können. Wie aber steht es um unsere fundamentalen Wirklichkeitsdeutungen – zumal dann, wenn sie intuitiv auf Ablehnung stoßen müssen? Wenn sie etwa dem scheinbaren Fortschritt in den Arm fallen und auf deutliche Wohlstandsverluste hinauslaufen? Dann bleibt wohl nur, sein eigenes kleines Interpretationsliedchen zu singen und zuzuschauen, wie der Stecken wohl schwimmt – wissend, wie gewagt die jeweils eigene Interpretation ist und dass sie vielleicht bloß dazu bestimmt ist, irgendwo im allgemeinen historischen Gedächtnis unterzugehen.



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