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Mittwoch, 11. Mai 2016

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Paulinischer Glaube ist der Versuch, unsere Wirklichkeitsinterpretation von links auf rechts zu drehen: Paulus begreift die Weltwirklichkeit nicht als einen Ort des Lebens, sondern als einen Ort totaler Gottlosigkeit und insofern als einen Ort des Todes. Die Welt ist Sünde, der Mensch ist Sünder, als solche sind sie tot. Solange die Weltwirklichkeit ist, lässt sich daran nichts ändern. Paulus will aber auch gar nichts ändern. Die Weltwirklichkeit wird in ihrer Gottlosigkeit ohnehin vergehen. Der Tod des Todes ist unvermeidlich. Fraglich ist allein, wie die Weltwirklichkeit im Werden ihres Vergehens zu begreifen und zu handhaben ist.

Religion und Metaphysik setzen, anknüpfend an der vernehmbaren Wirklichkeit, auf übergeordnete Wirklichkeiten, auf Götter und Ideen, deren Sinnstiftungen und Gültigkeitsvorgaben als erklärende und normierende Form über die Wirklichkeit gelegt werden. Paulus lässt dieses Denken hinter sich. Es ermächtigt und dynamisiert lediglich die Mechanismen der Sünde – besonders dann, wenn es auf „Fortschritt“ zielt, wenn es Besserung oder gar Heilung der Weltwirklichkeit verspricht. Fortschritts- und Heilsdenken festigen die Macht der Sünde und vergrößern zugleich das Leid im Werden des Vergehens.
Paulus sucht daher nach einer Wirklichkeitsinterpretation, die der Macht der Sünde gerade nicht in die Hände spielt, die dem Menschen vielmehr weitgehende Unabhängigkeit, vielleicht sogar Freiheit verschafft von der Gültigkeitslogik der Sünde. Freiheit von der Weltwirklichkeit und eine Durchbrechung ihrer Logik werden aber allein dann möglich, wenn die Interpretation der Weltwirklichkeit weder von vernehmbaren Wirklichkeiten ausgeht noch Gültigkeiten zu behaupten versucht. Gerade hier setzt paulinischer Glaube ein. Paulus selbst greift bei seiner Uminterpretation der Welt noch auf einige wenige Wirklichkeiten und Gültigkeiten zurück – vielleicht, weil das für ihn entscheidende messianische Ereignis noch nicht weit genug hinter ihm liegt, vielleicht, weil er seinen wirklichkeits- und gültigkeitsabhängigen Adressaten den Eindruck vermitteln will, er sei einer von ihnen, um sie auf diese Weise aus ihren Abhängigkeiten herauszuführen. Jedenfalls ist die Tendenz paulinischen Denkens kaum zu übersehen: Es geht um Freiheit von Weltwirklichkeiten und Gültigkeiten. Angesichts dieser Tendenz will ich in den folgenden Einträgen anzudeuten versuchen, was konsequenter paulinischer Glaube meint und inwiefern er sich von Weltwirklichkeiten und Gültigkeiten unabhängig macht.

Zunächst und vor allem ist paulinischer Glaube das, was Søren Kierkegaard „Sprung“ nennt. Der Glaube beginnt mit dem total ungesicherten und dauerhaft weltwirklich angefochtenen Wagnis eines interpretatorischen Sprungs ins gähnende Nichts. Springend nimmt der Glaubende eine ganz andere Gotteswirklichkeit als wirklich an, die er nicht vernehmen kann, für die sich keine weltwirklichen Anhaltspunkte finden und angeben lassen, die es also „tatsächlich“ nicht „gibt“. Diese nicht-wirkliche Wirklichkeit ist für den Glaubenden Wirklichkeit des Lebens. An diese Wirklichkeit hängt er sich mit seiner ganzen Existenz und mit all seiner Kraft. Paulinischer Glaube ist pistis (Glaube) im strengsten Sinne: Der Glaubende bindet sich existenziell und beständig an eine Wirklichkeit, die er nicht sieht – und zwar so, als ob er sie sähe (Hebr 11,1).
Pistis im paulinischen Sinne fordert damit nicht allein das Opfer der Vernunft. Sie fordert das Opfer der Weltwirklichkeit als Leben, das endgültige Opfer des weltwirklichen Seins und der weltwirklichen Existenz. Der paulinisch Glaubende springt und lässt dabei die Weltwirklichkeit, damit aber auch sich selbst endgültig los. Glaubend findet er sich nach dem Sprung zwar nirgendwo anders wieder, als in der Weltwirklichkeit und in sich selbst. Allerdings begreift er weltwirkliches Sein und weltwirkliche Existenz aus der Perspektive der ganz anderen Gotteswirklichkeit nun als Tod. Sein Glaube, seine totale Beheimatung in der nicht vernehmbaren Gotteswirklichkeit des Lebens, verschafft ihm größtmögliche Unabhängigkeit von Welt und Selbst. Er interpretiert sie nun so, als ob sie bereits aufgehoben und überwunden, als ob sie ungültig wären – obwohl sie tatsächlich noch gültig sind.

Anmerkung: Der paulinische Sprung ist uns heute einerseits leichter denn je. In der säkularen Moderne haben wir das Göttliche endgültig aus der Weltwirklichkeit ausgeschlossen. Wir „wissen“ also mittlerweile, dass eine mögliche Gotteswirklichkeit ganz anders sein muss, als die Weltwirklichkeit. So gesehen sind wir in säkularer Zeit tatsächlich "Gott-näher" (Bonhoeffer), als in religiöser oder metaphysischer Zeit. Andererseits ist der paulinische Sprung heute jedoch schwerer denn je. In säkularer Zeit haben wir jede Distanz zur Weltwirklichkeit, ihren Göttern und Gültigkeiten verloren. Wir sind Welt und Selbst total unterworfen, sind in ihnen ganzheitlich gefangen. Wie soll da noch das glaubende Opfer von Sein und Existenz möglich sein?

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