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Montag, 29. Februar 2016

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Gestern früh, wieder beim Bäcker. Dieses Mal bedient mich ein junger Mann. Wie üblich, bestelle ich die weiße Semmel, ohne genauer anzugeben, wie sie aussehen und beschaffen sein soll. Während der Herr hinter sich in die Kiste greift, flötet mir Andreas Bourani aus dem Lautsprecher im Laden seine Weltmeisterschaftshymne ins Ohr: „Und solange unsere Herzen uns steuern, wird das auch immer so sein. Ein Hoch auf das, was vor uns liegt, dass es das Beste für uns gibt…“. Ganz kurz denke ich darüber nach, was das wohl für meine Semmelbestellung bedeuten könnte: Soll ich den netten Bäckereifachverkäufer mal fest in meine Armee schließen? Oder soll ich ihn doch eher von der Semmelkiste wegdrängen und selbst nach der Semmel meines Herzens suchen?

Was meint die Populärkultur, wenn sie uns auf unsere Herzen als Leitinstanz des Lebens verweist? Offenbar sollen wir weniger reflektieren und uns eher unseren Gefühlen, Trieben und Instinkten anvertrauen. Dahinter steckt die verständliche Sehnsucht, abseits unseres vertakteten und virtualisierten Alltags wenigstens ein bisschen unmittelbares Glück fühlen zu dürfen. Dahinter steckt aber auch eine vormoderne, unaufgeklärt-romantische Vorstellung von Natur, eine Idee möglicher und dauerhafter Gefühlsharmonie abseits oder im Vorfeld jeder Reflexion. Nun wissen wir mittlerweile, dass die verschiedenen Mechanismen, die in der Natur wirken, nicht notwendig harmonisch und schon gar nicht dauerhaft harmonisch ineinander greifen. Auch hat uns nicht zuletzt die philosophische Anthropologie darauf aufmerksam gemacht, dass wir, wenn wir uns unseren Instinkten anvertrauen, spontan tendenziell das tun, was dem sozialen Miteinander eher unzuträglich ist.
Aber wie dem auch sei: Kommen wir als Menschen überhaupt an der Reflexion vorbei? Gerade das ist doch unsere Eigentümlichkeit, dass bei uns immer Gefühl auf Interpretation, Herz auf Vernunft trifft. Selbst die Forderung, dem Befehl des Herzens zu folgen, ist ja höchst interpretationsgeladen. Nun gibt es angesichts dessen eine lange Tradition, die der Interpretation den Vorrang vor der Natur, der Vernunft den Vorrang vor dem Herzen einräumt. Die Bevorzugung der Vernunft hat dabei von der Annahme gelebt, Vernunft sei etwas anderes als Natur, mit der Vernunft sei so etwas wie universale Einheit gegeben und mit Hilfe der Vernunft ließe sich die Einheit der Natur zumindest annähernd herstellen. Leider müssen wir mittlerweile auch von dieser Annahme Abschied nehmen. Gerade auch die Neurowissenschaften belehren uns gegenwärtig darüber, dass Vernunft möglicherweise nichts anderes ist als eine Äußerung von Natur und dass diese Äußerung alles andere ist als einheitlich und in sich widerspruchsfrei.
Was nun? Offensichtlich ist, dass der Mensch nicht anders kann, als zu reflektieren und zu interpretieren. Aber welcher Interpretation können wir uns heute noch anvertrauen? Der Philosoph Hans Vaihinger hat in Auswertung Kants und Nietzsches bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Intuition formuliert: Uns bleibt bloß noch übrig, uns an ein Als ob zu hängen. Leitende Wahrheiten sind nicht mehr als Fiktionen. Aber diese Fiktionen sind notwendig, sie müssen postuliert werden, weil wir sonst nicht leben und schon gar nicht zusammenleben können. Vaihingers Fiktionen sind noch bestimmt von der Idee einer möglichen Vernunfteinheit. Angesichts der Einsicht in die unendliche Differenz möglicher Vernünftigkeiten stellt sich heute die Frage, welches Als ob uns noch übrig bleibt.



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