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Montag, 4. Juli 2016

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Wenn wir global weder auf eine „Universaldespotie“ (Kant) noch auf einen Zustand des Krieges aller gegen alle zusteuern wollen (wobei das eine das andere zur Folge haben kann), dann werden wir in postsäkularer Zeit wohl eine veränderte Einheit von Wirklichkeitsinterpretation und Macht, von Glaube und Politik vorbereiten müssen. Erste Aufgabe wird es sein, die Gründung von Politik und politischer Gemeinschaft auf Gültigkeiten, gleichzeitig die Vorstellung von Politik und politischer Gemeinschaft als Repräsentation von Gültigkeiten zu überwinden. Zur Begründung einige vorläufige Andeutungen.

Transzendente oder transzendentale Substanzen als Gültigkeiten, die religiös oder metaphysisch zugänglich gemacht und universalisiert werden könnten, sind unwiederbringlich verloren. Immanente Substanzen als flüssige Gültigkeiten mittlerer Reichweite, die zwar zeitlich befristeten und räumlich begrenzten, aber doch wenigstens halbwegs verlässlichen Grund bieten können (das, was wir Kultur nennen, die Idee der Nation oder gemeinsame Werte), lösen sich unter Globalisierungsbedingungen auf. Die Halbwertszeit ihrer Tragfähigkeit nimmt ab. Der Versuch, stattdessen globale Substanzen zu etablieren, muss vor allem aus anthropologischen Gründen scheitern.

Plausibilität und Attraktivität gewinnt gerade auch vor diesem Hintergrund die liberale Idee formaler Freiheit als Gültigkeit. Politik als Repräsentation formaler Freiheit soll die Ermöglichungsbedingungen schaffen für politische Gemeinschaft, zumindest aber für das, was wir heute Zivilgesellschaft nennen. Allerdings ist die Idee formaler Freiheit eng verknüpft mit der Idee der Selbstvergültigung und Selbstbehauptung des Menschen als Subjekt (formuliert als Idee von Menschenwürde und Menschenrecht). Freiheit als Form ist damit unausgesetzt von sich selbst bedroht. Warum?

Unter freiheitlichen Bedingungen entwickelt sich nicht das, wovon diese Bedingungen in ihrem Bestand langfristig abhängig sind: eine ausreichend bindungsfähige und stabile Substanz politischer Gemeinschaft (das, was man Ethos nennen könnte). Zu beobachten sind vielmehr zunehmende Pluralisierung und Differenzierung von Substanzen. Aus Gemeinschaften werden Gesellschaften (Ferdinand Tönnies), Gesellschaften zerfallen in eine „Welt in Stücken“ (Clifford Geertz) – wobei die Substanzstücke immer kleiner werden und sich immer weniger passend aneinander legen lassen.

Unter freiheitlichen Bedingungen nimmt die Fähigkeit des Einzelnen, sich von sich selbst und der Weltwirklichkeit überhaupt zu distanzieren, sichtlich ab. Damit geht die wohl entscheidende Voraussetzung möglicher Gemeinschaft verloren (entscheidende Voraussetzungen sind eben nicht Sozialität und Moralität). Das hat zahlreiche Ursachen: zunächst die Idee der Selbstvergültigung und Selbstbehauptung des Subjekts an sich, dann der Relevanzverlust selbst- und wirklichkeitsdistanzierender Interpretationen und Institutionen, nicht zuletzt die freiheitliche Formgebung selbst, die sich als politische, rechtliche, soziale, wissenschaftliche, technische, ökonomische und mediale Virtualität realisiert, unter deren Diktat das Leben von Einzelnen und Gemeinschaften massiv funktionalisiert und mechanisiert wird.

Und schließlich bedroht Freiheit als Form sich selbst, weil sie einen prinzipiell konfrontativen Zustand stiftet und auf Dauer stellt. Freiheit als Form löst den potenziellen Konflikt zwischen Menschen in raum-zeitlicher Gemeinschaft nicht interpretatorisch auf, sondern versteht die Selbstvergültigung und Selbstbehauptung des Menschen geradezu als konstitutiv, verschafft der Würde und dem Recht des Menschen einen vermeintlich sicheren Raum und versucht, die in diesem Raum aufeinander prallenden Ansprüche, den „ewigen Krieg der Ansprüche“ (so habe ich selbst gegen Kant formuliert), formal zu moderieren. Ist das an sich schon ein fragwürdiges, weil prinzipiell gewalthaltiges Wagnis, so wird der Versuch freiheitlicher Formung politischer Gemeinschaft in einer „Welt in Stücken“ mit Bewohnern ohne Selbst- und Wirklichkeitsdistanz ein hoffnungsloses Unterfangen. Die freiheitliche Form wird porös und brüchig. Letztlich wird sie dem Druck, den sie selbst aufbaut, nicht mehr standhalten können.

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