Wenn Prophetie versagt, wenn also konkrete Heilserwartungen nicht befriedigt werden, dann neigt messianisches Denken dazu, eine apokalyptische Gemütslage zu erzeugen. Immer und überall wird nun die letzte große Katastrophe gewittert. Wenn jedoch auch diese ausbleibt, wenn also auch die Befürchtung einer erschreckenden Wendezeit vor dem Ende der Geschichte enttäuscht wird und die Weltwirklichkeit weiter ihren unbeeindruckten Lauf nimmt, dann bleiben dem Messianismus zuletzt bloß drei mögliche Zufluchten: eine gnostische, weltverachtende Innerlichkeit, ein zynischer Nihilismus oder ein enthemmter Hedonismus.
Es ist die beeindruckende Leistung des frühen Christentums, nach dem enttäuschenden Ausbleiben des Erlösers diese messianische Dynamik zunächst aufgefangen und unterbunden zu haben. Zugleich ist es dem Christentum gelungen, sich in den weltanschaulichen und politischen Krisen der Spätantike als vielversprechende Interpretations- und Gestaltungsmacht anzubieten. In seiner theologisch-politischen Konstruktion setzt es dabei überaus geschickt und motivierend auf eine langfristig angelegte, von Treue, Beharrlichkeit und Geduld abhängende Gottesrealisierung im Weltwirklichen, wobei jede weltwirkliche Gottesrealität unter einen religiös-moralischen und unter einen eschatologischen Vorbehalt gestellt wird: Dass Gott wirklich wird und bleibt in der Welt, hängt nicht zuletzt von religiösem und moralischem Gehorsam ab. Jede weltwirkliche Gottesrealität ist jedoch immer bloß eine Abschattung, ein Vorgeschmack der letzten, eigentlichen Gottesrealität, die dem Menschen nicht verfügbar ist, sondern die sich als letzter Gnadenakt ereignen wird. In der modernen Säkularisierung des Christentums wird diese theologisch-politische Abrichtung von Theorie und Praxis konserviert und aufgefrischt. Besonders schön lässt sich dies an Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ verdeutlichen, in der das kommende globale Friedensreich von unbedingter Treue gegenüber den Prinzipien des Rechts abhängig gemacht und der Erfolg dieser Treue mit einer säkularisierten messianischen Verheißung hinterlegt wird: „Trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohlthat des ewigen Friedens) von selbst zufallen.“
Auch wenn das abendländische Denken und Leben heute nach wie vor auf dem vom langfristigen Messianismus des Christentums vorgezeichneten, mittlerweile stark individualisierten und pluralisierten Heilspfad voranschreitet, so sind doch die Gründe und Verheißungen, die diesen Pfad geebnet haben, mittlerweile auch in ihren säkularen Wendungen zweifelhaft und schal geworden. Zuletzt – und erste Anzeichen dafür lassen sich beobachten – wird wohl auch der christlich-säkulare Messianismus auf jenes Ende zusteuern, in das alle Messianismen hineintreiben, die auf weltwirkliche Heilsrealisierung setzen: Gnosis, Nihilismus oder Hedonismus.
Vor diesem Ende schützt der paulinische Messianismus. Zweifellos geht Paulus selbst noch von einem raschen Ende der Weltwirklichkeit aus. Sein Messianismus lässt sich aber auch ganz unabhängig davon denken. Paulinischer Messianismus ist prophetisch nicht in dem Sinne, dass er das Heil der Welt ankündigt. Paulinische Prophetie hängt glaubend an einer außerwirklichen Heilsrealität, durch die hindurch die Weltwirklichkeit als ungültig angeschaut und in ihrem Gang beobachtet wird. Diese Prophetie kann von keiner Wirklichkeitsentwicklung enttäuscht werden, weil ihre „Wahrheit“ nicht davon abhängt. Sie kann also auch nicht in eine apokalyptische Unheilsstimmung abrutschen. Paulinischer Messianismus ist apokalyptisch nicht im katastrophischen, sondern im eigentlichen, ganz nüchternen Sinne: Er durchschaut den trügerischen Schein aller weltwirklichen Gründe und Verheißungen, lüftet ihren Schleier und hält sich von ihnen unabhängig – ganz egal, welche Weltwirklichkeit er vorfindet. Paulus muss daher auch nicht vor der Welt oder in die Welt hinein fliehen, er braucht keine gnostische, nihilistische oder hedonistische Zuflucht. „Ich kann niedrig sein und kann hoch sein. Mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“ (Phil 4,12f). Paulus kann in jeder beliebigen Weltwirklichkeit ganz gegenwärtig und hier für die Weltwirklichkeit da sein. Und gerade das unterscheidet ihn von allen anderen Messianisten – nicht zuletzt auch von den christlichen.
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