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Mittwoch, 23. März 2016

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Es ist ein bemerkenswertes Ereignis, dass Derridas Dekonstruktion die Erneuerung paulinischen Denkens provoziert – und dies nicht etwa in der Theologie, sondern in der französischen und italienischen politischen Philosophie. Kant entdeckt in der Theologie den „stolzen Anspruch“, die Philosophie sei bloß „ihre Magd“ – und fügt dieser Beobachtung die bissige Frage bei, ob die Philosophie wohl „ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt“. Was Paulus betrifft, so wäre zu wünschen, dass sich die politische Philosophie als Fackelträgerin erweisen würde. Dies aber nicht im Dienste einer schlichten Neuauflage paulinischer Theologie in der Gegenwart – dafür ist der „garstige Graben“ (Gotthold E. Lessing) zwischen Paulus und uns doch zu breit und zu tief. Es bedarf vielmehr einer Neuaneignung paulinischer Denkstrukturen unter den Interpretations- und Lebensbedingungen des 21. Jahrhunderts – also eines reformatorischen Aktes, der vergleichbar ist mit dem des 16. Jahrhunderts. Dazu einige vorläufige häretische Thesen.

1) Der paulinische Messias ist nicht der Christus des Christentums. Der christliche Christus dient in seiner Entstehungsphase nicht zuletzt der theologischen Unterfütterung des römischen Kaiser- und Papsttums, damit zugleich dem Gedanken der Repräsentationsfähigkeit und zumindest prozesshaften Realisierbarkeit des Göttlichen in der Weltwirklichkeit. Beide Vorstellungen sind Paulus fremd.

2) Der paulinische Messias ist auch nicht der jüdische Messias. Jüdischer Messianismus stützt sich auf die Annahme eines weltwirklich kommenden Heils. Die Ankunft des Messias wird entweder aktiv vorbereitet, oder eher passiv erwartet. Bei Paulus ist der Messias gerade nicht das Heil der Weltwirklichkeit.

3) Der paulinische Messias steht nicht für einen neuen, sondern für die Aufklärung des alten, abrahamitischen Glaubens im Sinne seiner Verschärfung und Universalisierung: Die Weltwirklichkeit war, ist und wird nicht heil. Heil ist vielmehr eine ganz andere, außerwirkliche Gotteswirklichkeit. Die Verheißung dieser ganz anderen Wirklichkeit gilt nicht einigen wenigen Menschen oder bloß einem Teil der Realität, sondern der totalen Weltwirklichkeit.

4) Die Wahrheit und Wirkmächtigkeit der paulinisch-messianischen Verheißung hängt an nichts Realem – auch nicht an Personen oder Ereignissen. Paulus interessiert sich nicht für Jesus als historische Person. Er interessiert sich auch nicht für Kreuz und Auferstehung als historische Ereignisse. Paulus fragt allein danach, welche Aufklärung über das Verhältnis von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit mit Jesus Messias, mit Kreuz und Auferstehung gegeben ist – und was das für Denken und Leben bedeutet.

5) Im Unterschied zum Christentum sind bei Paulus alle positiven Analogien zwischen außerwirklicher Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit ausgeschlossen – also das, was Martin Heidegger "Ontotheologie" nennt. Aus der Gotteswirklichkeit lassen sich keine positiven Vorgaben oder Bestimmungen für Denken und Leben in der Weltwirklichkeit ableiten – nicht auf dem Weg einer Seinsanalogie (analogia entis), nicht auf dem Weg einer Glaubensanalogie (analogia fidei) und nicht auf dem Weg einer personal-relationalen Analogie (analogia relationalis). Auf alle theologischen Hilfsmittel, die sich das Christentum in seiner Vereinigung von jüdischem, griechischem und römischem Denken zum Zwecke der positiven Vermittlung zwischen Göttlichem und Wirklichem geschaffen hat (Schöpfungstheologie, personale Trinitätstheologie, Inkarnationstheologie), wird bei Paulus verzichtet.

6) Als Ersatz für diesen Verzicht stützt sich Paulus aber nicht auf verbliebene immanente Verlässlichkeiten – noch nicht einmal im Sinne eines Postulats oder einer Fiktion (als ob). Paulus nimmt nicht die neuzeitlichen Bemühungen vorweg, den Verlust der Transzendenz zu kompensieren und im "stählernen Gehäuse" nun in vermeintlich sicheren Naturordnungen oder in rationalen Konstrukten zur Strukturierung des Natürlichen Halt und Orientierung für Denken und Leben zu finden. Vielmehr ist Paulus auch der modernen Säkularität deutlich voraus.

7) Paulinisches Denken ist nachreligiös, nachmetaphysisch und nachsäkular – und insofern hoch aktuell. Es hängt sich ausschließlich an die Hoffnung einer außerwirklichen Gotteswirklichkeit, die in der Weltwirklichkeit nicht wirklich war, nicht wirklich ist und nicht wirklich sein wird. Die außerwirkliche Wirklichkeit lässt sich noch nicht einmal im immer Kommenden finden. Paulus stützt sich radikal auf das Nicht-Seiende, das in der Weltwirklichkeit nicht und niemals präsent und nicht und niemals repräsentabel ist – nicht in Heiligen Schriften, nicht in Dogmen, Ethiken, Ritualen oder Praktiken, nicht in Ereignissen oder Erscheinungen, nicht in Strukturen, Verfahren oder Institutionen, nicht in Ämtern oder Personen.

8) Mit der außerwirklichen Gotteswirklichkeit, die er messianisch hoffend annimmt, behauptet Paulus bloß eine einzige Gültigkeit: die der Ungültigkeit aller transzendenten und immanenten Gültigkeiten. Diese Gültigkeit ist das (uneigentliche) Gesetz des Messias (1 Kor 9,21). Durch dieses Gesetz hindurch darf die Weltwirklichkeit, obwohl sie noch als Gültigkeit erscheint und wirkt, schon hier und jetzt als ungültig, als aufgehoben und überwunden begriffen werden. Die Weltwirklichkeit wird interpretiert und gebraucht, als ob sie nicht wäre (1 Kor 7,29–31).

Nicht mehr, aber auch nicht weniger als dies meint messianisches Leben: die Realität interpretieren und gebrauchen, als wäre sie nicht. Dieses Leben heilt die Welt nicht, ist nicht Präsenz oder Repräsentation des Göttlichen im Weltwirklichen. Alles bleibt unheil und gottlos, wie es ist. Und doch ist im paulinischen als ob nicht alles anders – für den Einzelnen wie für die Vereinigung von Einzelnen in politischen Gemeinschaften. Dieses Andere des messianischen als ob nicht kann jenseits der modernen Säkularität neu relevant werden. Gerade auch politisch.

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