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Freitag, 11. März 2016

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Alle Zeiten haben ihre eigenen Weltanschauungen und Weltgestaltungsversuche. Immer gibt es auch Skeptiker oder Abweichler, aber insgesamt erweisen sich bestimmte Weltanschauungen und entsprechende Weisen, die sich stellenden Probleme zu lösen, zum jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt als erfolgreich, akzeptiert und dominant.

In unserer Gegenwart lösen sich gemeinschaftliche Anschauungen und Problemlösungsversuche auf, aber auch das entspricht ja ganz der derzeit dominanten gemeinschaftlichen Vorstellung: Momentan scheint die überwiegende Mehrheit davon auszugehen, dass die Vielfalt der Weltbilder und die Vielfalt der Lebensweisen die beste Art sei, sich in der Wirklichkeit aufzuhalten und sich in ihr zu verhalten. Der US-amerikanische Philosoph Thomas Kuhn spricht in diesem Zusammenhang von „Paradigmen“. Entscheidend ist für Kuhn dabei die Beobachtung, dass sich bislang noch kein Paradigma dauerhaft hat halten können. Alle Paradigmen geraten früher oder später in Krisen und werden zunehmend befragt. Alternativen werden gesucht und erprobt, neue Paradigmen kündigen sich an und setzen sich nicht selten in revolutionären Prozessen durch. Mit dieser Beobachtung ist zunächst keinerlei Wertung ausgesprochen. Es gibt an sich keine guten oder bösen Paradigmen, und ein Paradigmenwechsel ist nicht unbedingt ein Fortschritt im normativen Sinne. Zu bestimmten Zeiten kann die Masse die Wirklichkeit eben nur so und nicht anders anschauen und gestalten. Aber auch dies gilt offenbar: Ein Zurück in überholte Paradigmen ist unmöglich. Wir können heute nicht mehr so tun, als sei die Erde der Mittelpunkt unseres Sonnensystems und als wäre die Erde eine Scheibe.

Zwischenbemerkung: Vor diesem Hintergrund ist es bisweilen durchaus hilfreich, sich unser gegenwärtiges Paradigma vom Standpunkt des verstehenden, aber doch befremdeten Betrachters vorzustellen, der sich in 200 Jahren ideengeschichtlich mit uns auseinandersetzen wird. Das relativiert die eigenen Wahrheitsüberzeugungen und -ansprüche erheblich.

Auch unter säkularen Bedingungen ist es selbstverständlich noch möglich, die Weltwirklichkeit religiös zu interpretieren und ihre positive Bestimmtheit durch eine transzendente Wirklichkeit zu behaupten. Und zweifellos gibt es eine große Zahl liebenswerter religiöser Menschen, die in ihrer Wirklichkeitsinterpretation festen Halt finden und sich entsprechend zu verhalten bemühen. Allerdings müssen sie, sofern sie ihre religiöse Rückbindung tatsächlich ernst nehmen, in der säkularen Gegenwart mit Unbequemlichkeiten rechnen: Sie erscheinen als anachronistisch, als irgendwie aus der Zeit gefallen. Ihre merkwürdigen Argumentationen lassen sich nicht, wie es Jürgen Habermas seit einigen Jahren fordert, in säkulare Sprache übersetzen, sondern können nur als Begründungsmuster eines längst überholten Paradigmas, oder, wenn die jeweilige Religiosität gerade cool ist, als irgendwie unterhaltsame Extravaganz wahrgenommen werden.
Es gibt religiöse Menschen, die sich dadurch zum Rückzug in eine Art Parallelwelt gezwungen sehen. Hier pflegen sie, möglichst gemeinschaftlich, ihre religiöse Existenz, und sorgen sich still oder anklagend um die Welt dort draußen. Manche von ihnen öffnen ihre Türen, starten Attraktivitätsoffensiven für alle, die irgendwie auf der Suche sind. Nicht selten erreichen sie damit jedoch nur einige Eventhopper, die „Degenerierten“ oder jene, „die sich selbst für das Wichtigste auf der Welt halten“ (Bonhoeffer). Für den Einzelnen ist die Flucht in die religiöse Parallelwelt insofern tragisch, als dass sie ihn zu einer Art Doppelleben zwingt: Vor allem in seiner Berufswelt denkt und funktioniert er ganz so, als gäbe es seinen Gott gar nicht. Er unterwirft sich hier einer Art methodischem Atheismus. Dabei verliert seine Frömmigkeit jede Relevanz für das Alltägliche.
Als Alternative bietet sich der Versuch an, öffentliche Relevanz zu wahren. Insbesondere die christlichen Volkskirchen in Deutschland beschreiten diesen Weg. Der Preis ist jedoch auch hier hoch: Selbstverständlich wird geradezu erwartet, dass transzendente Begründungen für das öffentliche Engagement der Kirchen noch irgendwie und irgendwo auftauchen. Aber selbstverständlich darf öffentlich auch nur das vertreten und praktiziert werden, was öffentlich erwartet und im Spektrum des weltanschaulich Zulässigen geduldet wird – was also tatsächlich übersetzbar ist im Habermas’schen Sinne ist. Das stutzt die Kirchen und ihre Mitglieder zurück auf die Pflege inhaltsleerer aber anrührender Rituale, auf soziales Engagement und auf die Aussendung moralischer Störgeräusche.
Öffentliche Religiosität in säkularer Zeit muss anschmiegsam und verträglich sein. Gerade dadurch wird sie aber letztlich belanglos und überflüssig, weil andere Menschen und Institutionen Ähnliches oder Gleiches zu bieten haben – nur nachvollziehbarer, weil säkular begründet. An nichts wird dies deutlicher, als an kirchlichen Stellungnahmen zu gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Fragen. Religion erweist sich hier als etwas, das durch das dominante Weltbild durch die Zeit geschleift wird – wobei gerade evangelische Erklärungen den Eindruck erwecken, als wären sie darin besonders eifrig und wollten den herrschenden Anschauungen sogar gehorsam vorauseilen.
Religion unter säkularen Rahmenbedingungen ist immer ein so oder so kompatibler Anachronismus – irgendwie von gestern, aber doch so, wie alle anderen auch. Licht der Welt, das vorausgeht, leuchtet und ein neues Paradigma aufscheinen lässt, kann Religion nicht mehr sein. Weil ein Zurück in ihr Paradigma unmöglich ist.



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