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Dienstag, 26. April 2016

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Im christlichen Hochmittelalter rücken Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit auseinander. Wer und wie Gott eigentlich ist, wird unsicher. Ob sein Wesen, Wollen und Handeln in nachvollziehbare und verlässliche Gültigkeiten (Gesetze) gefasst werden können, oder ob Gott nun als reiner „Willkürgott“ (Hans Blumenberg) vorgestellt werden muss, lässt sich kaum noch sagen. Gott wird entweltlicht, die Welt wird entgöttlicht. Es beginnt ein langes zähes Ringen um die Frage, inwiefern Gott und die von ihm möglicherweise ausgehenden Gültigkeiten noch als relevant für die Weltwirklichkeit vorgestellt werden können, wie die Weltwirklichkeit selbst zu begreifen und wie sie in geeigneter Weise zu bearbeiten ist.

Die Reformatoren stehen für ein pointiertes als ob Gottes. Sie halten sich an das Bild, das Gott von sich in Schöpfung und Heiliger Schrift erzeugt hat – gleichzeitig davon ausgehend, dass der eigentliche Gott verborgen und ganz anders ist. Doch allein der als ob Gott und die mit ihm gegebenen Gültigkeiten sind von Belang. Der unsichtbare Gott hat den Menschen nicht zu interessieren. Calvin fordert eine docta ignorantia, eine wohlgelehrte Unwissenheit. Der offenbarte als ob Gott darf erforscht und gelehrt, der verborgene Gott soll dagegen ignoriert werden.
Der reformatorische als ob Gott bietet ein verlässliches und allgemeines Gesetz an, mit dem Schöpfung und Menschen zu bearbeiten sind. Dieses (religiös-moralische) Gesetz dient zunächst dazu, die Gottlosigkeit von Schöpfung und Menschen aufzudecken und der Gnadenbotschaft des Evangeliums den Weg zu bereiten (usus elenchticus legis). Es gibt aber darüber hinaus einen usus politicus legis, einen politischen Gebrauch des Gesetzes. Das Gesetz des Schöpfers gilt als Vorgabe für die Ordnung des politischen Raums. Dieser Raum soll durch das Gesetz nun nicht mehr vergöttlicht, sondern allein noch innerweltlich befriedet werden. Die Reformatoren gehen damit noch recht naiv (und wenig paulinisch) davon aus, die politische Welt ließe sich stabilisieren und das Gesetz des als ob Gottes sei hierzu das geeignete Hilfsmittel. Luther setzt dabei, mehr als Calvin, auf Natur und Vernunft. Er traut dem gottlosen Menschen zu, aus Natur und Vernunft das Schöpfergesetz rekonstruieren und realisieren zu können – freilich ohne den Stifter dieses Gesetzes zu kennen und selbstverständlich ausschließlich weltwirklich wirkend. Calvins als ob Gott und sein Gesetz sind dagegen der Allgemeinheit weitgehend entzogen. Sie lassen sich weniger in Natur und Vernunft als vielmehr in der Schrift finden, wobei der Zugang zum Sinn der Schrift Glaubenden und Kirche vorbehalten ist. Vor diesem Hintergrund behauptet Calvin im Unterschied zu Luther einen usus legis in renatis, einen Gebrauch des Gesetzes für und durch Glaubende und Kirche. Das Gesetz des Schriftgottes gilt auch für sie, auch sie haben sich seinen Wirklichkeits- und Existenznormierungen zu unterwerfen, haben sich selbst und die Welt entsprechend zu bearbeiten. Darüber hinaus müssen sie im politischen Raum zumindest beratend tätig werden, da sonst das Gesetz des Schriftgottes leicht in Vergessenheit gerät oder in Sinn und Zweck bloß korrumpiert zur Anwendung kommt.
Der reformatorische als ob Gott ist Teil einer breiten Uminterpretationsbewegung. So stützen sich etwa auch die in der frühen Neuzeit aufkommenden (empirischen) Naturwissenschaften zunächst auf ein als ob Gottes. Die neuen Empiriker sind nicht selten darauf aus, die Gesetze und Ordnungen des Schöpfers ausfindig und nutzbar zu machen. Allerdings tritt der Schöpfergott für sie zunehmend in den Hintergrund. Sind seine Gesetze erst einmal entdeckt, ist die Ursache-Wirkungs-Mechanik ihres Gebrauchs erst einmal durchschaut, dann ist die Beachtung des als ob Gottes für die weitere gesetzliche Bearbeitung der Weltwirklichkeit nicht mehr erforderlich. Vergleichbare Tendenzen lassen sich im politischen Denken beobachten. Thomas Hobbes, der Begründer der modernen Politischen Philosophie, macht verlässliche natürliche und soziale Kausalitäten ausfindig, die ihm zwar als göttlich gestiftet gelten, die es aber auch ganz unabhängig davon ermöglichen, einen Staat zu begründen und Politik zu betreiben. Der Calvinist Hugo Grotius bringt diesen Gedanken auf die Formel, das in der Natur durch den Schöpfer angelegte Recht könne Geltung beanspruchen, „selbst wenn man annähe, […] daß es keinen Gott gäbe [etiamsi daremus non esse Deum] oder daß er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere“. Das etsi deus non daretur, der als ob nicht Gott bei Grotius markiert bereits wenige Jahrzehnte nach dem Tod Calvins einen Wendepunkt: Der als ob Gott und sein Gesetz werden nicht aufgegeben. Sie werden aber säkularisiert und damit ersetzt. Die weltwirklichen Gültigkeiten und Verlässlichkeiten werden vom reformatorischen als ob Gott entkoppelt und nun rekonstruiert, als ob es diesen Gott nicht gäbe. Im Prozess, der damit angestoßen ist, entwächst der Mensch der Rolle des Rekonstrukteurs und schlüpft hinein in die Rolle des Konstrukteurs. Spätestens mit Kant übernimmt er die Rolle des neuen als ob Gottes. Der Mensch selbst ist es nun, der Gültigkeiten und Verlässlichkeiten zu stiften hat. Seine Gesetze sind es, mit denen Weltwirklichkeit und Menschen bearbeitet werden müssen.

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