Gott tritt als Gesetzgeber auf und stiftet so eine Gültigkeitsbeziehung zwischen Transzendenz und Immanenz. Der Mensch muss nun annehmen, es gebe göttliche Vorgaben für Religion und Moral. Und er muss den Eindruck gewinnen, der religiös-moralische Gehorsam gegenüber dem göttlich gegebenen Gesetz sei mit innerweltlichen Segnungen verbunden. Paulus behauptet dagegen, der göttliche Gesetzgebungsakt sei bloß Inszenierung. Im Gesetz ist lediglich ein als ob gegeben – ein als ob Gottes und ein als ob der Welt. Das von Gott gegebene Gesetz ist darauf angelegt, alle religiös-moralischen Vorstellungen von Gott und Welt und ihrer möglichen Gültigkeitsbeziehung zu dekonstruieren, also zu ent-täuschen. Damit ist zugleich ein messianisch aufgeklärter abrahamitischer Glaube vorbereitet. Dieser Glaube klärt auf, dass Gott nicht so ist, wie er sich im Gesetz zu erkennen gibt, dass Gott nicht fordert, was er im Gesetz zu fordern scheint, und dass die Weltwirklichkeit weder göttlich ist noch nach vermeintlich gottgegebenen Gesetzen gestaltet werden darf. Gesetzliche Weltinterpretation und -gestaltung befördert vielmehr die Macht der gottlosen Weltmechanik.
Historisch ereignet sich der göttliche Gesetzgebungsakt nach dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Israel wird durch das Gesetz in falschen Vorstellungen von Gott und Welt eingeschlossen – an einem Punkt seiner Geschichte, an dem es sich durch die Wüste wandernd nach einem sichtbaren Gott zu sehnen beginnt. In vergleichbarer Lage findet sich das frühe Christentum wieder: Nach der angenommenen Befreiung durch Kreuz und Auferstehung bleibt die erwartete Sichtbarkeit Gottes aus, die Existenz des wandernden Wartens erweist sich als äußerst prekär. Auch hier schafft ein in religiös-moralischer Gesetzgebung sichtbarer Gott vermeintlich Abhilfe. Die christliche Gotteskonstruktion schreitet in ihrer Vereinigung von jüdischen, griechischen und römischen Interpretationen allerdings weit über die jüdische Gottesidee hinaus. Transzendenz und Immanenz werden analogisch miteinander verschmolzen, die Weltwirklichkeit wird christologisch mit Heilsannäherungserwartungen aufgeladen. Der christliche Gott ist gewissermaßen die repräsentativ-pantheistische Version jenes Gottes, der am Berg Sinai auftritt – nun mit universalem und globalem Geltungsanspruch ausgestattet.
Paulinisch interpretiert ist das Christentum ein verschärfter Rückfall. Mit ihrem Gottes- und Weltentwurf verschließt sich die christliche Religion erneut in der Sünde, und dies deutlich massiver, als es im mosaischen Judentum der Fall war. Wollte man spekulative Geschichtstheologie betreiben, so könnte man vielleicht sagen: Das Christentum und sein Gott sind allein gegeben, damit sie sich selbst dekonstruieren und die Sünde global ermächtigen – als Vorbereitung für den Glauben. Das Christentum selbst als Zuchtmeister auf den Messias hin. Ein spannender und merkwürdig humorvoller Gedanke.
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