Für einige überzeugte Anhänger der sogenannten „Säkularisierungsthese“ kommt das einigermaßen überraschend, ging man doch davon aus, dass Religion bei fortschreitender Aufklärung allenfalls noch als folkloristisches Phänomen auftreten und zuletzt sogar aus der Wirklichkeit verschwinden würde. Abgesehen davon, dass Religion immer eine Möglichkeit bleiben wird, sich in der Wirklichkeit Halt und Orientierung zu verschaffen, lässt sich der gegenwärtige Boom des Religiösen gerade auch im säkularisierten Abendland durchaus erklären: Die Verfehlungen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts erschüttern, große und sozial integrative Weltbilder sind verloren, die sich globalisierende Welt wird immer unübersichtlicher, die unmittelbare Konfrontation mit einem gewaltbereiten Islamismus ängstigt und alarmiert. Kontingenz, wo auch immer wir hinschauen. Da wundert es nicht, dass wir uns noch einmal auf die Suche machen nach individuellen und gesellschaftlichen Rückbindungsmöglichkeiten – wobei ich gerade auch in Deutschland den Eindruck habe, dass diese Suche eher virtuellen Charakter hat und nicht selten in eine belang- und folgenlose Beschwörung christlich-abendländischer Werte mündet.
Wie dem auch sei: Selbstverständlich begreife ich meine eigene Suche nach einer veränderten Gottesbehauptung als Symptom der Zeit, in die ich hineingeworfen bin – wenngleich mich schon immer existenzielle Motive stärker im Denken vorangetrieben haben, als soziale oder politische. Im Verlauf meiner Denkbewegung haben sich mir die drei traditionellen religiösen Verbindungswege zwischen Transzendenz und Immanenz zunehmend verschlossen: Natur, Offenbarung, Mystik.
Der Natur und ihren Erscheinungen, zu denen ich die Vernunft zähle, habe ich schon immer misstraut. In ihnen habe ich immer nur Welt wahrnehmen können – und nicht Gott. Wenn aber doch Gott, dann im calvinischen Sinne, also „hinter“ allem. Der „hinter“ allem sichtbare Gott ist jedoch so unsichtbar und unberechenbar, dass er mir nicht das sein kann, was ich suche.
Meine Herkunftsprägung bietet mir Gott in der Offenbarung an, Offenbarung allein in der Schrift. Daran bin ich zunächst durch die Reflexion der sozialen und politischen Folgen irre geworden. Dazu kam die nominalistische Sprachaufklärung, und schließlich die historische Aufklärung des 19. Jahrhunderts. „Christus“, so formuliert Hegel in Abwandlung eines schwäbischen Sprichwortes, ist „schon so lange für unsere Sünden gestorben, daß es bald nicht mehr wahr ist“. Wie können wir uns noch an Gültigkeiten festmachen, die uns heute historisch fragwürdig erscheinen müssen? Der naive Sprung über diesen Graben soll der Glaube sein, der mich heute zu halten fähig ist – selbst gegen alle existenziellen Erfahrungen? Schließlich hat mich Dietrich Bonhoeffers Kritik an Karl Barths „Offenbarungspositivismus“ überzeugt. Barth fängt mit seiner Christentumskritik im Römerbriefkommentar stark an, verfällt dann aber in die Entfaltung einer ausufernden, letztlich doch wieder orthodoxen christlichen Dogmatik, die dem modernen Menschen bloß noch vorgeworfen werden kann nach der Weise „friß Vogel, oder stirb“ (Bonhoeffer).
Bleibt also die Mystik? Dazu fehlt mir jede Neigung. Und so, wie mir die Gefahr allzu groß erscheint, meine Vernunft mit Gott zu verwechseln, so kann ich auch nicht sehen, warum sich in bestimmten Gefühlen oder Erfahrungen das Göttliche widerspiegeln soll – in anderen jedoch nicht. Mystik erscheint mir als eine Form des Selbstbetrugs, nicht selten verbunden mit der Sehnsucht nach Zuflucht vor der realen Realität.
Insgesamt ist es mir über die Zeit unmöglich geworden, auf religiösem Wege, also durch positive Vermittlung zwischen Transzendenz und Immanenz, haltende und orientierende Gültigkeiten zu gewinnen und darin Rückbindungen zu finden für immanente Gültigkeiten – weder in erster noch in zweiter Naivität. Mir ist Gott weder wirklich zugänglich, noch kann ich so tun, als ob er mir wirklich zugänglich wäre. (Nebenbei bemerkt: Mit der Religion und ihrem Gott habe ich zugleich die - strukturanaloge - philosophische Metaphysik und ihre Ideen verloren. Aber dazu vielleicht an anderer Stelle mehr.)
Wie also Gott noch behaupten? Neu angesetzt habe ich bei einem Satz, der mir bei Dietrich Bonhoeffer begegnet ist: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“
Wie also Gott noch behaupten? Neu angesetzt habe ich bei einem Satz, der mir bei Dietrich Bonhoeffer begegnet ist: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“
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