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Dienstag, 19. April 2016

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Der paulinische Sündenbegriff zieht eine markante Grenze zwischen Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit. Die Welt ist Sünde, der Mensch ist Sünder. Das meint zunächst: Welt und Mensch sind ganz anders als Gott. Das meint zudem: Menschliche Rationalität und Sinnlichkeit sind nicht göttlich. Sie bieten noch nicht einmal Zugänge zum Göttlichen. Sie sind vielmehr Erscheinungsformen der Sünde. Das bedeutet wiederum: Religion und Moral, alle Bemühungen, sich innerweltlich an irgendetwas Höheres oder Allgemeines zu binden, bringen nichts Göttliches hervor oder werden dem Göttlichen irgendwie gerecht. Noch nicht einmal analogisch. Noch nicht einmal annähernd. Religion und Moral sind pure Immanenz, also Äußerungen der Sünde.

Religiöse und moralische Regeln, denen der Mensch sich unterwirft, können damit nicht mehr als Transzendenzrealisierung, als Heilsannäherung der Weltwirklichkeit begriffen werden. Vielleicht aber haben sie doch zumindest einen ganz innerweltlichen Sinn und Wert? Vielleicht ist das, was theologisch üblicherweise unter dem Begriff des Gesetzes abgehandelt wird, für die menschliche Existenz und für das menschliche Miteinander irgendwie hilfreich – vor allem dann, wenn das religiöse und moralische Gesetz als göttliche Offenbarung angenommen wird, als Aufklärung des Schöpfers darüber, wie ihm ganz weltlich in der rechten Weise gedient werden soll, wie in der Weltwirklichkeit seiner Vorgabe gemäß mit der Welt und miteinander umzugehen ist?
Selbst für diesen Versuch, Religion und Moral als immanenten Gottesdienst, zumindest aber als Welt- und Menschendienst zu retten, bleibt bei Paulus kein Raum. Im Römerbrief ringt Paulus sichtlich mit seiner eigenen jüdischen Herkunft, indem er das Gesetz und den göttlichen Gesetzgeber von allen Vorwürfen freizuhalten versucht. Und doch konstruiert er ein funktionales Verhältnis zwischen Gesetz und Sünde, das theologisch nicht nur schwer erträglich ist, sondern das mit der mosaisch-jüdischen und zugleich mit der noch kommenden römisch-christlichen (selbstverständlich auch mit der islamischen) Tradition zu brechen beginnt. Das religiös-moralische Gesetz ist bloß gegeben, „damit die Sünde umso mächtiger würde“ (Röm 5,20). Ohne Gesetz bleibt die Sünde unbewusst, durch das Gesetz aber wird sie „lebendig“ (Röm 7,9). Im Galaterbrief versteht Paulus das Gesetz als „hinzugekommen um der Sünden willen“ (Gal 3,19). Es verschließt den Menschen gewissermaßen in seiner Sünde – allerdings mit einem klaren Zweck: „auf den Glauben hin“ (Gal 3,23). Es hat als aufklärender „Zuchtmeister“ eine begrenzte und flüchtige Funktion. Im messianischen Glauben ist es aufgehoben und überwunden (Gal 3,24). Der sich hier bei Paulus andeutende Gesetzesbegriff hat zahlreiche Implikationen. Auf die vielleicht wichtigsten will ich kurz hinweisen:

1) Sünde meint die Struktur und Funktionsweise der Weltwirklichkeit, die Struktur und Funktionsweise menschlicher Existenz. Mit dem religiös-moralischen Gesetz ist die Sünde bezeichnet. Das Gesetz klärt den Menschen darüber auf, wie er ist und funktioniert.

2) Als Offenbarung begriffen, erscheint das Gesetz als Aufklärung Gottes. Allerdings nicht als Aufklärung über Gott, sondern als Aufklärung über die Weltwirklichkeit und den Menschen. Das Gesetz lässt keine Rückschlüsse auf Gottes Wesen zu.

3) Dieser ersten theologischen Ernüchterung folgt nicht selten die reduzierte Annahme, das Gesetz sei zumindest Ausdruck des göttlichen Schöpfer- oder Erhalterwillens. Die Unterwerfung unter das religiös-moralische Gesetz sei daher gut für Welt und Mensch. Paulus dagegen behauptet, das Gesetz diene gerade nicht der Besserung der Weltwirklichkeit, sondern lediglich ihrer Abschließung und Verhärtung. Gerade unter dem als gottgegeben auftretenden Gesetz eskalieren die Funktionsmechanismen der Sünde. Ist das richtig, so müssen alle religiös-moralischen Verheißungen, die einen Zusammenhang herstellen zwischen Gesetzestreue und innerweltlichem Segen, radikal uminterpretiert werden.

4) Wer religiös-moralische Gesetzestreue einfordert, der sorgt nicht für das Wohl von Welt und Mensch, sondern befördert die Eskalation der Sünde. Zugleich unterbindet er das, was Paulus Glaube nennt. Religiös-moralische Gesetzestreue ist nicht Äußerung messianischen Glaubens. Im Gegenteil: Im messianischen Glauben sind alle religiös-moralischen Gültigkeiten aufgehoben und überwunden.

Ich vertrete die These, dass sich der von Paulus hergestellte Zusammenhang zwischen Gesetz und Ermächtigung der Sünde erweitern lässt: Alle religiösen und moralischen, alle natürlichen oder kulturellen, technischen oder ökonomischen Gesetze, die wir entdecken oder formulieren, denen wir uns unterwerfen oder die wir zu unserem Wohl zu nutzen versuchen, sind der Weltwirklichkeit und uns selbst gerade nicht dienlich. Sie verschließen uns lediglich in der Sünde, machen deren Funktionsweisen stark und unterstützen sie dabei, uns mit sich fortzureißen. In diesem Gedanken liegt, so meine ich, der Schlüssel zum Verständnis unserer modernen abendländischen Gegenwart. Darüber helfen nicht Religion oder Moral, nicht Natur oder Kultur, nicht Technik oder Ökonomie hinweg. Weiterhelfen könnte der messianische Glaube. Was dieser Glaube ist und meint, muss nicht zuletzt unter dem Schutt des Christentums neu freigelegt werden.

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