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Freitag, 18. März 2016

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Das ist der Lauf der Dinge: Die sichtbaren Götter, alles, woran wir uns in der Weltwirklichkeit mit Vernunft oder Gefühl hängen und was gerade darin Macht gewinnt über uns, verliert früher oder später seinen Reiz, offenbart sich als enttäuschend anders oder kommt an sein natürliches, manchmal allzu unappetitliches Ende: das unbedingt notwendige neue Kleidungsstück, das Glück mit einem neuen Partner, die großen beruflichen Ziele, der Traum von globalem Frieden und Wohlstand.

Auch das politisch-ökonomische System, dem wir uns seit einigen Jahrzehnten unterwerfen, zeigt derzeit deutliche Degenerations- und Dekadenzerscheinungen. Gerade in seiner globalen Überdehnung und in seiner Ausfransung in immer undurchsichtigere Netzwerkstrukturen beginnt es zu zerfallen. Noch glauben wir an dieses System, an ein katholisches (allumfassendes) und ökumenisches (weltweites) Menschenrechtsregime, an dessen Gestaltbarkeit etwa durch Global Governance. Doch der dritte Weltkrieg, den wir meinen, zu diesem Zweck führen zu müssen, der asymmetrische und hybride Krieg unserer Tage, lässt sich nicht gewinnen. Er trägt vielmehr zur Entblößung des totalitären und aggressiven Kerns unseres Systems bei. An dessen Ende drohen globales Unverständnis und Zerstreuung, babylonische Verhältnisse nach dem Scheitern des Versuchs, alle Menschen unter einem einzigen sichtbaren Gott zu vereinen.
Insbesondere die linke politische Theorie sucht in dieser Lage nach neuen materialistischen Alternativen zu unserem System und ruft zugleich zum aktiven Widerstand auf, gar zu „gutem Terror“ (Slavoj Žižek). Meine politische Agenda ist eine andere: Zunächst geht es mir um weitgehende innere Unabhängigkeit von den Annehmlichkeiten und Verheißungen unseres Systems – ohne davor zu fliehen oder gar in eine Totalverweigerung zu verfallen. Wo möglich, streue ich der politischen und ökonomischen Maschine in meinem Kontext Sand ins Getriebe. Vor allem aber will ich für die, die mir unmittelbar anvertraut sind, dienend da sein, insbesondere dann, wenn sie in Unfreiheit zu Opfern des Systems werden - unabhängig davon, was ihnen zum Verhängnis wird. Und schließlich versuche ich, über den Tag hinaus zu denken: wie die Weltwirklichkeit nach dem Ende des letzten politischen und ökonomischen Gottes noch interpretiert und wie menschliches Zusammenleben dann noch gestaltet werden kann.

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