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Mittwoch, 29. Juni 2016

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In der säkularen Moderne tendieren Staat und Politik dazu, sich von Kirche und Religion zu lösen: Sie werden nicht mehr religiös begründet, nicht mehr religiös legitimiert. Der Staat ist nicht mehr Repräsentant Gottes, Politik ist nicht mehr Exekution göttlichen Willens. Gott und das Göttliche sind als quasi-sichtbare, transzendent-religiöse Gültigkeiten unwiederbringlich verloren. An ihre Stelle treten als neue sichtbare, immanent-religiöse Gültigkeiten der Mensch und das Menschliche. Mensch und Menschliches gilt es nun politisch zu repräsentieren.

Wie das in politischer Gemeinschaft in geeigneter Weise geschehen könnte, ist und bleibt in der Moderne umstritten. Einig ist sich die Moderne zunächst allerdings darin, dass Religion als Idee von Transzendenz und Kirche als institutionalisierte Repräsentation von Transzendenz deutlich zurücktreten müssen. Manche modernen politischen Entwürfe fordern und fördern eine vollständige Überwindung von Kirche und Religion, andere halten Kirche und Religion zumindest vorläufig für funktional relevant, wenn diese sich in den Dienst von Sozialität und Moralität stellen und sich in einer staats- und gesellschaftsstabilisierenden Rolle als förderlich erweisen. Diesem Gedanken folgt auch der freiheitliche säkulare Rechtsstaat, insbesondere in der deutschen Fassung.
Nun zeichnen sich in den vergangenen Jahrzehnten bedenkliche Entwicklungen ab: Die im Kontext der Aufklärung noch für sicher erachtete Gründung von modernem Staat und moderner Politik wird brüchig. Die sozialen und moralischen Energien moderner Gesellschaften scheinen erschöpft. Eine institutionalisierte Kraft, die dem etwas entgegen setzen könnte, ist nicht mehr zuhanden. Das moderne Projekt säkularer Rechtsstaatlichkeit und freiheitlicher Gesellschaft droht zu „entgleisen“ (Habermas). Vor diesem Hintergrund wird auch im politischen Denken die starke Säkularisierungsthese zunehmend verabschiedet, nach der man annehmen konnte, Kirche und Religion seien letztlich obsolet und würden langfristig zu einem bedeutungslosen Randphänomen verkümmern.
Unter dem Gedanken der „Postsäkularität“ (Habermas) erfahren gegenwärtig Religion und Kirche neue Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Das Verhältnis von Staat und Politik einerseits, von Kirche und Religion andererseits wird neu ausgelotet. Dabei verbleibt jedoch vor allem der deutsche Diskurs weitgehend im herkömmlichen funktionalistischen Modus: Staat und Politik sollen in Begründung und Praxis weiterhin unabhängig gehalten werden vom Sprachspiel der Religion. Allerdings scheint die Zivilgesellschaft, die das Überleben des modernen politischen Projektes zu gewährleisten hat, normativ verbindender Ressourcen zu bedürfen. Diese soll nicht zuletzt die Religion bereitstellen, wobei Religion als sozial-moralisches Konstrukt begriffen wird, dessen säkular übersetzbare Potenziale politisch nutzbar gemacht werden können. Das deutsche politische Denken verfolgt mit seiner neuen Wertschätzung der Religion also vor allem die Absicht, das moderne politische Projekt zu stabilisieren und letztlich zu retten.

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