Nun hat der deutsche Rechtsphilosoph und ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits 1967 eine viel diskutierte Warnung formuliert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Damit ist zunächst gemeint, dass die sozialen und moralischen Ressourcen, von denen die Stabilität des modernen Staates auch abhängig ist, von anderswo herkommen müssen. Der Staat selbst kann und darf sie nicht mehr bereitstellen. Traditionellerweise sieht man hier gerade in Deutschland Religion und Kirche gefordert. Sie sind wesentliche Quellen, aus denen der gesellschaftliche Kitt gewonnen werden soll. Daher werden sie auch staatlich besonders geschützt und gefördert.
Grundsätzlich, aber auch im Blick auf den politischen Wirklichkeitsverlauf der vergangenen 25 Jahre, halte ich diese Konstruktion für gewagt und letztlich nicht belastbar. Böckenfördes These muss in zweifacher Hinsicht umgedeutet und damit verschärft werden: (1) Der moderne Staat setzt auf die Idee eines aufgeklärten, mündigen und politisch teilnehmenden Bürgers, die sich als Überforderung erweist. Einerseits sind die Selbstbildungs- und Selbstaufklärungsanforderungen in der immer komplexer werdenden Wirklichkeit viel zu hoch, andererseits sind die modern zuhandenen Interpretationen sämtlich nicht in der Lage, dem Menschen Selbst- und Wirklichkeitsmächtigkeit zu verschaffen. (2) Das Böckenförde-Diktum hat auch eine ungewollte, institutionelle Spitze: Der moderne Rechtsstaat als System setzt auf eine rationale Einheit und Stabilität seiner Institutionen, die unter pluralen und globalen Bedingungen nicht mehr haltbar sind. Die Integrität der rechtsstaatlichen Anstalten ist bedroht, zugleich eskaliert der staatliche Apparat in dem immer verzweifelteren Versuch, die eigene Existenz zu sichern.
Meine These lautet daher: Die Idee des säkular-liberalen Rechtsstaates setzt auf anthropologische und institutionstheoretische Voraussetzungen, die nicht nur niemand real garantieren kann, sondern die sich im existierenden und sich entwickelnden modernen Staat selbst und wechselseitig destruieren. Der alte Streit zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann ist entschieden. Beide täuschen sich. Das moderne politische Subjekt ist nicht das, was es sein soll, und es kann nicht tragen, was es tragen muss. Diese Not wird aber auch nicht aufgefangen durch selbstschaffende und selbstregenerierende soziale Systeme. Diese Systeme neigen vielmehr zur Selbstzersetzung.
Wenn diese Interpretation halbwegs trifft – was ist zu tun? Zum einen müssen wir uns auf die Suche machen nach einer deutlich zurückhaltenderen Anthropologie, die dem einzelnen Menschen zugleich eine möglichst schlichte, aber vor allem auch sozial wirkungsvolle Selbstinterpretation an die Hand gibt. Zum anderen müssen wir nach einer institutionell deutlich reduzierten Organisationsform menschlichen Zusammenlebens Ausschau halten, die die Gefahr der (selbst-)destruktiven Eigenmacht sozialer Systeme weitestgehend begrenzt. Beides ist, so meine ich, im paulinischen Denken und dessen Institutionalisierung in der frühen ekklēsía (Volksversammlung!) in Ansätzen realisiert. Hier lohnt eine neue Vergegenwärtigung. Allerdings dürfen Paulus und seine ekklēsía dabei nicht mehr durch die christliche Brille angeschaut werden. Christlich uminterpretiert wird Paulus leicht zum universalistischen und globalistischen Imperialisten, seine ekklēsía wird zur katholischen und ökumenischen Kirche.
Wie gesagt: Der tatsächliche Paulus und seine tatsächliche ekklēsía sind anders. Sie sind der lästige Sand im sozialen und politischen Getriebe ihrer Zeit. Diesen Sand gilt es heute neu auszustreuen – mitten hinein in die sich globalisierende politische Maschine der späten Moderne.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen