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Donnerstag, 7. Juli 2016

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Die Reformation lässt sich als Versuch interpretieren, den unsichtbar werdenden, den in die Unsichtbarkeit verdrängten, den in die Unsichtbarkeit sich zurückziehenden Gott in der Weltwirklichkeit irgendwie im Spiel zu halten.

Um dies zu ermöglichen, wird Gott gewissermaßen zerteilt, gespalten. Der gnädige Gott der Reformatoren, der Gott des Evangeliums, ist eine Vorformulierung (vor dem Hintergrund paulinischer Theologie eine Reformulierung) dessen, was der unsichtbare, ganz andere Gott im Blick auf die Weltwirklichkeit eigentlich will (was die ganz andere Gotteswirklichkeit für die Weltwirklichkeit eigentlich „bedeutet“): Aufhebung und Überwindung. Verungültigung. Nun lässt sich dieser Gott allerdings in einer Welt der Gültigkeiten, in einer Welt des Streits der Gültigkeiten nur schwer noch abbilden, nur schwer noch vergegenwärtigen, nur schwer noch als relevant behaupten. Den gnädigen Gott ergänzen die Reformatoren daher durch den ordnenden Gott, den Gott des Gesetzes, den Gott, der die Mechanik der Weltwirklichkeit nach bestimmten Gesetzen eingerichtet hat und daher, zum Wohle von Weltwirklichkeit und Mensch, die Achtung dieser Gesetze einfordert.
Im politischen Denken der Reformatoren ist die Spaltung Gottes abgebildet in der Lehre von den zwei Reichen und Regimenten. Grob und nicht ganz treffend gesagt: In Staat und politischer Gemeinschaft repräsentiert sich der Gott des Gesetzes, in Kirche und Glaubensgemeinschaft repräsentiert sich der Gott des Evangeliums. Die reformatorische Spaltung Gottes gerade auch im Raum des Politischen drängt auf Säkularisierung. Ganz allgemein wird der Gott des Gesetzes fragwürdig und unzuverlässig, weil er nicht mehr identisch ist mit dem eigentlichen Gott. Es liegt daher nahe, sich im Weltwirklichen auf das Verfügbare und Berechenbare zu konzentrieren, die Gesetze der Wirklichkeitsmechanismen zunehmend unabhängig von einem Gott des Gesetzes zu denken und sie auch zunehmend unabhängig von ihm nutzen zu lernen (das ist eine der zentralen Thesen der "Legitimität der Neuzeit" Hans Blumenbergs).
Das lutherische Denken unterstützt diesen Trend, indem es einerseits dem Politischen (dem Weltlichen überhaupt) weitgehende Eigenständigkeit zugesteht, andererseits, ohne einen tertius usus legis, der Absonderung des gelebten Glaubens durch eine die ganze Existenz ergreifende, spiritualisierte Frömmigkeit Vorschub leistet (etwa im Pietismus des 17. Jahrhunderts). Der Beitrag des calvinischen Denkens zur Säkularisierung ist ein anderer. Durch den calvinischen tertius usus legis sind politische Gemeinschaft und Glaubensgemeinschaft eng miteinander verzahnt, zugleich ist in diesem usus legis die totale Rationalisierung, die Vergesetzlichung und Vertaktung menschlicher Existenz angelegt. Während der Mensch unter dem tertius usus legis zunehmend gesetzlich zu funktionieren beginnt, entweicht der religiöse Geist – ein Geist, der den Menschen zwar treibt, der ihm aber auch Distanz verschafft zur Welt. Am Ende des calvinisch angestoßenen und betriebenen Säkularisierungsprozesses steht der moderne Mensch, der „Fachmensch ohne Geist“ und der „Genußmensch ohne Herz“ (Max Weber).

Nachbemerkung: Im Unterschied zu Max Weber sehe ich keinen Zusammenhang zwischen einer calvinistischen Erwählungsungewissheit und der modernen Rationalisierung insbesondere in ökonomischer Hinsicht. Vielmehr ist es gerade die Erwählungsgewissheit des Calvinisten, verbunden mit der im tertius usus legis auferlegten Verpflichtung, die den modernen, säkularen Rationalismus wesentlich befördert.

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