In vorsäkularer, religiöser Zeit werden Glaube und Vernunft insofern als Einheit wahrgenommen, als dass das Göttliche selbstverständlich als das der Weltwirklichkeit Vorausliegende, die Weltwirklichkeit Bestimmende und sie Durchdringende gilt. Göttliches und Wirkliches werden ganz unterschiedlich vorgestellt, ebenso die Verbindung zwischen beiden. Manche sehen das Göttliche eher in den Ideen der Vernunft, andere eher in den natürlichen Erscheinungen abgebildet. Immer aber verstehen sich Glaube und Vernunft als komplementäre Interpretationseinheit, die beide gemeinsam darum ringen, wie das Göttliche im Wirklichen und damit das Wohl von Welt und Mensch zu realisieren sei. Dabei nennt die Theologie das Vorausliegende Gott, die Philosophie spricht eher unpersönlich von Metaphysik.
Die Einheit von Glaube und Vernunft wird im Universalienstreit der hochmittelalterlichen Scholastik brüchig und zerfällt schließlich in den theologischen und philosophischen Auseinandersetzungen des 15. und 16. Jahrhunderts. Diesen Prozess in seinen Wendungen und Verästelungen hat zunächst der deutsche Philosoph Hans Blumenberg („Legitimität der Neuzeit“) und zuletzt vor allem der kanadische Philosoph Charles Taylor („Ein säkulares Zeitalter“) zu rekonstruieren versucht. Endgültiger Wendepunkt des überkommenen Verhältnisses von Glaube und Vernunft ist Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Kant begrenzt alle mögliche Welterkenntnis auf das, was (geteilte) Erfahrung sein kann. Zugleich reduziert er unsere Sprache auf Begriffe, die durch (geteilte) Erfahrungen gefüllt werden können. Kant schließt also die Weltwirklichkeit, ihre Erkennbarkeit und Gestaltbarkeit gegenüber jeder spekulativ oder mystisch erschlossenen Hinterwelt ab. Aus theologischer Perspektive zieht der pietistisch erzogene Kant damit die radikale philosophische Konsequenz aus dem jüdischen (und muslimischen) Bilderverbot, vor allem aber aus dem von Johannes Calvin herkommenden, im reformierten Denken tradierten finitum non capax infiniti: das Endliche vermag das Unendliche nicht aufzunehmen. Hegel erkennt die Grenzziehung Kants grundsätzlich an, will aber doch daran festhalten, dass das Göttliche im Wirklichen auf verborgene Weise nicht nur präsent ist, sondern sich historisch sogar unaufhaltsam realisiert (Dietrich Bonhoeffer nennt ihn daher einen „Pantheisten“). Theologisch gesehen entscheidet Hegel sich also im Streit um das Verhältnis von Göttlichem und Weltwirklichen für ein spezifisch lutherisches finitum capax infiniti: das Endliche vermag das Unendliche aufzunehmen. Dessen ungeachtet wird auch bei Hegel die Weltwirklichkeit zu einem Raum, der ohne Rückgriff auf ein Äußeres bewohnt und eingerichtet werden muss. Max Weber wird diesen Raum später ein „stahlhartes Gehäuse“ nennen.
Glaube und Vernunft trennen sich. Glaube verblasst zur bloßen Spekulation über das im Gehäuse nicht Erfahrbare, dessen Evidenz und Relevanz höchst fragwürdig erscheinen. Die Vernunft wird dagegen zum ganz säkularen, rein innerweltlichen Erkenntnis- und Gestaltungsinstrument, das die Welt, nun ohne religiöse oder metaphysische Hemmungen, zu erkunden und nach den eigenen Ideen zu entwerfen beginnt. Bei manchen Säkularisten ist die naive Freude über diesen Prozess bis heute ungetrübt, anderen dagegen ist die Partylaune angesichts der im 20. Jahrhundert sich offenbarenden politischen, sozialen, ökonomischen und technologischen Konsequenzen einer entbundenen Vernunft längst vergangen. Insbesondere im Umfeld der Frankfurter Schule wird die „Dialektik der Aufklärung“ sensibel wahr- und ernstgenommen – zunächst bloß in der Annahme, das Problem liege in einer unvermeidlich degenerierenden und letztlich nicht mehr zu rettenden Vernunft, jüngst jedoch durchaus mit einem wachsenden „Bewußtsein von dem, was fehlt“ (Jürgen Habermas).
In dieser Lage kann es nicht verwundern, dass insbesondere die christliche Religion wieder Morgenluft wittert und sich als das Fehlende neu anbietet. Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) spricht von einer in der Moderne „amputierten Vernunft“, die wieder der Öffnung gegenüber dem Göttlichen bedarf. Die moderne Vernunft soll wieder im religiösen Glauben ihre Erweiterung und damit Rückbindung finden. Auch Charles Taylor, Katholik und Hegelschüler, plädiert dafür, das Religiöse als kollektive Erfahrung neu zu erschließen. Messianisch gesehen wäre dies ein geradezu fataler „salto mortale zurück ins Mittelalter“ (Bonhoeffer). Wir würden uns selbst und die Wirklichkeit wieder religiösen Spekulanten und ihren repräsentativen Wirklichkeitsbemächtigungen ausliefern. Hinter Kant darf es kein Zurück geben. Das Gehäuse der Wirklichkeit muss hart und undurchdringlich bleiben.
Allerdings bedarf die säkulare Vernunft tatsächlich einer nächsten kritischen Aufklärung, und wohl nie zuvor in der Geschichte des Denkens war die Gelegenheit so günstig, die messianische Kritik noch einmal in ihrer vollen, paulinischen Radikalität zur Geltung zu bringen. Der religiöse Glaube sucht die Verwirklichung des Göttlichen in der Weltwirklichkeit und entnimmt dabei das Göttliche entweder der Natur (zu der auch die Vernunft rechnet) oder der Offenbarung. Der messianische Glaube dagegen interpretiert die Wirklichkeit ganz weltlich, so, wie es auch die säkulare Vernunft tut. Über die säkulare Vernunft kritisch hinausschreitend unternimmt der messianische Glaube jedoch das Wagnis, die Weltwirklichkeit einschließlich der sie deutenden Vernunft von ihrer Aufhebung und Überwindung her zu interpretieren. Dieses Wagnis ist ein „Sprung“ im Sinne Søren Kierkegaards, wobei der Springende nirgendwo anders aufkommt als in der Weltwirklichkeit selbst. Hier muss er in aufgeklärter Perspektive neu laufen lernen. Die Welt ist als radikal gottlos und unheil durchschaut – und nichts kann ihr zur Vergöttlichung oder gar Heilung verhelfen. Im kritischen Interpretationswagnis des messianischen Glaubens ist jedoch ihre Eigenmacht gebrochen, vor allem auch die instrumentelle Hektik und die destruktive Beschleunigung, denen uns die säkulare Vernunft in der Moderne zunehmend unterworfen hat.
Was der säkularen Vernunft heute fehlt, ist nicht etwa Religion, sondern messianischer Glaube.
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