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Dienstag, 12. April 2016

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Die paulinische Interpretation dessen, was Sünde ist, findet sich vor allem im Römerbrief. Paulus greift hier in seinen ersten Annäherungsversuchen auch auf Begriffe und Bilder zurück, die sich durchaus noch repräsentativ und damit traditionell verstehen lassen. Im Licht des reservativen als ob nicht deutet sich jedoch an, dass Paulus gerade jene religiösen (theologischen) und metaphysischen (philosophischen) Traditionen hinter sich zu lassen versucht, aus denen später das Christentum hervorgehen wird.

Hier ist nicht der Ort für eine ausführliche Exegese. Es muss bei ersten groben Hinweisen bleiben. Die theologische und philosophische Tradition setzt eine positive Gültigkeitsverbindung zwischen Göttlichem und Weltwirklichem voraus. Diese Verbindung gilt als unvollkommen, gestört, korrumpiert oder gar als unterbrochen (Sünde). Dagegen werden ganz unterschiedliche religiöse oder metaphysische Vermittlungs- oder Überbrückungsversuche aufgeboten. Paulus beginnt nun damit, den Gedanken einer positiven Gültigkeitsverbindung zwischen Göttlichem und Weltwirklichem überhaupt, damit aber zugleich den Gedanken einer möglichen Vermittelbarkeit zwischen dieser und jener Wirklichkeit zu überwinden. Bei Paulus ist Gott Gott, Welt dagegen ist Welt. Dazwischen ist nichts. Gott ist noch nicht einmal ein bisschen weltlich, die Welt ist noch nicht einmal ein bisschen göttlich. Keine Ähnlichkeiten, keine Analogien, keine Übergänge.
Der paulinische Sündenbegriff kann damit nur dahin tendieren, ein ontologischer Begriff zu werden. Wendet Paulus ihn auf den Menschen an, so versteht er ihn existenzial. Das bedeutet: Mit dem Begriff Sünde beschreibt Paulus die Struktur der Weltwirklichkeit und die Struktur menschlicher Existenz als Teil dieser Wirklichkeit. So, wie die Welt ist und funktioniert, ist sie Sünde. So, wie der Mensch ist und funktioniert, ist er Sünder. Sünde bezeichnet einen Zustand, den Zustand der Weltwirklichkeit und den Zustand des Menschen – den Zustand radikaler Gottlosigkeit. Welt und Mensch sind gottlos. Aber nicht in dem Sinne, dass ihnen der Geltungsanspruch des Göttlichen gegenüber stünde und dass ein Weg gefunden werden müsse, diesem Anspruch zumindest annähernd gerecht zu werden. Welt und Mensch sind und funktionieren schlechtweg ganz anders als Gott. Sünde meint eine Seinsweise und eine Existenz, die sich absolut von Gott unterscheiden.

Zwischenbemerkung: In gewissem Sinne lässt sich sagen, dass Sünde, wie Paulus sie versteht, eine nicht nur über die Moderne, sondern sogar über die Postmoderne hinausgehende Beschreibung der Weltwirklichkeit ist. Sünde lässt in der Welt keinen Raum mehr für Gott - noch nicht einmal für seine säkularen oder materialen Derivate.

Der paulinische Sündenbegriff untergräbt alles, worauf sich Religion und Metaphysik üblicherweise stützen. Einige wenige Hinweise will ich hier geben:
1) Weltwirklichkeit und Mensch sind im Gegenüber zum Göttlichen nicht defizitär oder korrupt, sondern ganz anders. In menschlicher Rationalität ist das Göttliche nicht präsent oder repräsentiert, sondern dass der Mensch ein Vernunftwesen ist, ist ein Aspekt seiner Gottlosigkeit. Sinnlichkeit ist nicht das, was den Menschen vom Vernünftigen und damit vom Göttlichen fernhält, sondern die Triebhaftigkeit des Menschen ist genauso gottlos wie seine Vernünftigkeit.
2) Weder über die Rationalität noch über die Sinnlichkeit ist eine Annäherung des Menschen an Gott oder eine Annäherung des Weltwirklichen an das Göttliche möglich. Wie auch immer sie also entworfen sind: Religion und Moral sind nichts anderes als Erscheinungsformen der Sünde. Was religiös-moralisch als böse bezeichnet wird, ist Sünde – genauso aber auch das religiös-moralisch Gute. Ein Mensch kann also, auch gegen seine Neigungen, vorbildlich religiös und moralisch sein. Das macht ihn im Sinne seiner Religion und seiner Moral wohl zu einem besseren Menschen. Das erhebt ihn aber nicht aus der Sünde. Aus paulinischer Sicht sind seine Religiosität und seine Moralität vielmehr Erscheinungsformen der Sünde.
3) Was auch immer weltwirklich ist oder geschieht: Darin ist nicht Gott und darin ist nichts Göttliches. Was auch immer der Mensch denkt, fühlt oder tut: Darin realisiert sich nicht das Göttliche, und am Verhältnis des Menschen zu Gott oder zum Göttlichen ändert sich nichts. Was der Mensch denkt, fühlt oder tut ist also aus der Perspektive der als ganz anders begriffenen Gotteswirklichkeit im eigentlichen Sinne des Wortes gleich-gültig. Es ist egal. Das ist die „Torheit“ des Kreuzes (1 Kor 1,18): Entgegen jeder religiösen oder metaphysischen Rationalität ist im paulinischen Sündenbegriff jede positive Gültigkeitsabhängigkeit zwischen Göttlichem und Weltwirklichem destruiert. Zugleich ist der Mensch von allen religiösen und moralischen Forderungen und Vorwürfen entlastet, die traditionelle Verhältnisbestimmungen von Gott, Welt und Mensch mit sich führen. Damit ist allerdings nicht gesagt, Sünde als Zustand sei kein Problem. Im Gegenteil. Jetzt erst wird sie zum Problem.

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