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Mittwoch, 22. Juni 2016

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Mit seiner Unterscheidung zwischen Vorletztem und Letztem öffnet Bonhoeffer einerseits einen theologischen Zugang zur Diesseitigkeit des Glaubens, andererseits ist dadurch, dass er das Vorletzte im Letzten „gänzlich aufgehoben und außer Kraft gesetzt“ (Ethik) sieht, die Weltwirklichkeit radikal relativiert.

Mit seiner Vorstellung von Vorletztem und Letztem scheint Bonhoeffer allerdings die traditionelle christliche Fortschrittserzählung noch nicht gänzlich fallen lassen zu wollen. Aufgabe im Vorletzten ist nach wie vor die Weltbesserung. „Mag sein, daß der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht“ (Widerstand und Ergebung). Bonhoeffer verwirft zwar den Gedanken, das Letzte sei die „Krönung“ des Vorletzten. Das Letzte ist vielmehr dessen „Abbruch“. Eine Interpretation des Letzten, die unmittelbar und wirklichkeitsrelevant von der vorletzten Nötigung, eine bessere Zukunft zu schaffen, zu befreien vermag, gelingt Bonhoeffer allerdings nicht.
Eschatologie, eine Lehre von den äußersten oder letzten Dingen, kann, reservativ begriffen, allein eine befreiende Lehre vom als ob nicht des Vorletzten sein, vom schon jetzt angenommenen und schon jetzt relevanten Aufgehoben- und Überwundensein der Weltwirklichkeit. Reservativ gewendet wäre Bonhoeffers Weltbesserungssatz so zu formulieren: Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann ist uns die Befreiungsarbeit von den Geltungsansprüchen der Welt aus der Hand genommen, vorher aber nicht.

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