Die im Hochmittelalter einsetzende Verdrängung Gottes in die Unsichtbarkeit provoziert auch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik. Ob, was, und in welcher Weise religiöses und politisches System jemanden oder etwas repräsentieren, wird unsicher. Vor diesem Hintergrund leistet die Reformation auf der Schwelle zur Neuzeit der modernen Trennung von Religion und Politik Vorschub, indem sie im Anschluss an Augustinus erneut und neu zwischen zwei Reichen und Regimenten zu unterscheiden beginnt. Dabei wird Gott in seinem Wollen gewissermaßen gespalten: Einerseits behaupten die Reformatoren das, was Gott unter den Bedingungen der von ihm unterschiedenen Weltwirklichkeit will. Das ist der ordnende, zwingende Wille Gottes. Er wird unter den Begriff des Gesetzes gefasst. Repräsentant dieses Willens ist die weltwirkliche Obrigkeit, später der Staat. Andererseits behaupten die Reformatoren aber auch das, was der von der Weltwirklichkeit unterschiedene Gott eigentlich will. Das ist der liebende, begnadigende Wille Gottes. Er wird unter den Begriff des Evangeliums gefasst. Repräsentant dieses Willens ist die Kirche.
Bei Luther schimmert die (mittelalterliche) Vorstellung einer natürlichen Ordnung der politischen Wirklichkeit noch durch. Diese ganz diesseitige Ordnung zu erkennen und sie zu realisieren, ist Aufgabe der Obrigkeit. Um ihrer Pflicht gerecht zu werden, bedarf die Obrigkeit vor allem der Vernunft, weniger der Aufklärung durch Religion und Kirche. Luther setzt darauf, dass Gott die politische Wirklichkeit vorwiegend verborgen durch die Obrigkeit und ihre Vernunft hindurch regiert, gesteht dieser daher eine weitgehende „Eigengesetzlichkeit“ (Karl Holl, Max Weber) und damit Selbständigkeit zu. Dieses Zugeständnis wird dadurch verstärkt, dass Luther keinen tertius usus legis kennt, keinen Gebrauch des Gesetzes durch und für die Glaubenden (usus legis in renatis). Haltung und Praxis von Glaubenden und Kirche folgen nicht den Gesetzen der politischen Wirklichkeit, neigen damit also auf ihre Weise ebenfalls zur Verselbständigung. Staat und Politik einerseits, Kirche und Religion andererseits tendieren zu einem Verhältnis wechselseitiger Anerkennung und weitgehender Nichteinmischung.
Calvin nimmt die politische Wirklichkeit moderner wahr als Luther. Sie erscheint ihm ungeordnet, chaotisch geradezu, unberechenbar und bedrohlich. Ordnung muss nicht realisiert, sie muss allererst hergestellt werden. Konstruktion und Gewährleistung politischer Ordnung ist bei Calvin allein Aufgabe der Obrigkeit. Dabei muss diese allerdings auf das göttliche Gesetz als Vorgabe auch für die politische Existenz zurückgreifen. Nun kann die Vernunft das göttliche Gesetz zwar halbwegs rekonstruieren. Der eigentliche Sinn (ratio) dieses Gesetzes bleibt ihr jedoch verschlossen. Der Sinn des Gesetzes erschließt sich allein dem Glauben. Daher werden Obrigkeit und Politik nicht vollständig in die Eigengesetzlichkeit entlassen. Sie sind vielmehr, wenn sie nicht zum Scheitern verurteilt sein wollen, auf die religiös-politische Belehrung durch die Kirche angewiesen – zumal diese den unberechenbaren Wirklichkeitsverlauf prophetisch zu durchschauen und wegweisend zu begleiten vermag. Die veränderte Nähe und wechselseitige Angewiesenheit von Religion und Politik werden bei Calvin verschärft durch die Behauptung eines tertius usus legis. Das göttliche Weltwirklichkeitsgesetz soll auch dem Glaubenden als Richtschnur dienen. Daher fallen Glaubensgemeinschaft und politische Gemeinschaft in Haltung und Praxis nicht fundamental auseinander.
Bei allen Differenzen verweist sowohl die lutherische als auch die calvinische Unterscheidung der Reiche und Regimente nachdrücklich auf die Moderne: auf die zunehmende Trennung von Staat und Politik einerseits, Kirche und Religion andererseits. Beide Seiten bleiben mehr oder weniger komplementär aufeinander verwiesen, jedoch treten die Zuständigkeiten und Mittel zunehmend auseinander. Staat und Politik stellen, notfalls gewaltsam, die Rahmenordnung des gemeinsamen Lebens bereit, Kirche und Religion sorgen, auf Bekenntnis und Diakonie reduziert, für ein zugewandtes und versöhnliches Miteinander innerhalb der politischen Gemeinschaft.
Zuletzt läuft diese Differenzierung auf eine weitgehende Funktionalisierung von Kirche und Religion hinaus: Staat und Politik werden in Begründung und Legitimation unabhängig von Kirche und Religion. Allerdings sind sie, um ihres Bestandes Willen, von einer sozialen und moralischen Wirklichkeit abhängig, die sie selbst nicht her- oder gar sicherstellen können. Eine soziale und moralische Wirklichkeit hervorzubringen, wird wesentliche Funktion von Kirche und Religion – im Dienste von Staat und Politik.
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