Zwischenbemerkung: Gestern Abend bleibe ich beim Zappen an der Infotainment-Sendung „Galileo“ (ProSieben) hängen. Eine Reporterin liefert einen wohlwollenden, aber durchaus verwunderten Bericht von ihrem Besuch bei einer fundamental-christlichen Familie in Texas. Hier hat sie miterlebt, wie sogenannte „Kreationisten“ ihr Leben streng nach der Bibel führen. Menschen wie die gezeigte Familie nehme ich immer mit großer innerer Anteilnahme wahr. Ich kann sehr gut nachempfinden, wonach sie sich sehnen und wonach sie suchen. Und doch ist ihr Denken und Leben eine quasi-monastische Flucht vor der Weltwirklichkeit. Theologisch verstehe ich diese Flucht als geradezu anti-messianische Bewegung. Sie bietet nicht das, was sie verspricht: Freiheit von der Welt. Vielmehr ist sie bloß eine religiöse Variante der totalen Hingabe an die Strukturen und Mechanismen der Weltwirklichkeit.
Das Christentum hat, wie seine säkularen Abkömmlinge auch, keine Wirklichkeitsfundamente mehr, auf die es bauen könnte. Alle sicheren weltwirklichen Fundamente des Denkens und Lebens sind heute allenfalls Postulate, als ob-Behauptungen, die bei Licht betrachtet bloß noch irritieren und verwundern können. Diese Lage ist einerseits verzweifelt (und lädt zur Flucht in religiöse oder säkulare Fundamentalismen ein), andererseits bietet sie eine bislang nicht dagewesene Chance: Nie war die Gelegenheit so günstig, das paulinische Evangelium ernst zu nehmen, mit Paulus über Paulus hinauszuschreiten und sich zunächst den erkenntnistheoretischen, dann aber auch den lebenspraktischen Konsequenzen des messianischen Ereignisses zu stellen. Damit meine ich: Das messianische Ereignis muss (nachchristlich) im paulinischen Sinne so uminterpretiert werden, dass Denken und Leben im Anschluss an diese Interpretation unabhängig werden von allen Wirklichkeitsfundamenten – auch vom messianischen Ereignis selbst, auch von seinen Bezeugungen, Begründungen und Auslegungen in der christlichen Heiligen Schrift. Die paulinische Interpretation des messianischen Ereignisses nötigt zum Wagnis des Sprungs – zum Glauben als ob nicht, zur Interpretation der Weltwirklichkeit als aufgehoben und überwunden, als ungültig. Dieser Ungültigkeitsglaube kann und darf streng genommen gar nicht abhängig gemacht werden von weltwirklichen Fundamenten, da mit ihm ja gerade die Ungültigkeit aller weltwirklichen Fundamente angenommen ist.
Damit ist gesagt: Egal, welche historischen Tatsachen als gesichert erscheinen, egal, welche Quellen sich als verlässlich erweisen, egal, welche Wahrheiten und Gültigkeiten noch als solche behauptet werden – der paulinische Ungültigkeitsglaube bleibt davon unberührt. Werden damit aber alle Ereignisse und Wahrnehmungen, werden alle weltwirklichen Fundamente des Denkens und Lebens irrelevant – insbesondere auch Kreuz und Auferstehung, insbesondere auch die Reflexionen dieser Ereignisse in der christlichen Heiligen Schrift? Nein und Ja zugleich.
Nein, weil unser Erkennen Erfahrung voraussetzt. „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft). Ohne Erfahrung keine Erkenntnis. Im Blick auf die christliche Religion heißt das auch: Ihre Tatsachen und Quellen sind ganz unabhängig von ihrer Verlässlichkeit insofern höchst relevant, als dass sie als historische Phänomene wirkmächtig geworden sind und wir sowohl einer intellektuellen als auch einer lebenspraktischen Auseinandersetzung mit ihnen gar nicht ausweichen können.
Ja, die christliche Religion, ihre Tatsachen und Quellen müssen uns irrelevant werden, weil uns bemerkenswerterweise gerade die intellektuelle und lebenspraktische Auseinandersetzung mit ihnen hineintreibt in den totalen Verlust sicherer weltwirklicher Fundamente. Wenn wir uns nun im Strom des Wirklichkeitsgeschehens noch irgendwo befestigen wollen (und das scheint mir dringend geboten), so müssen wir nach einem Ankerplatz des Denkens und Lebens außerhalb aller Erfahrung Ausschau halten.
Das ist die kantische Intuition. Kant selbst macht sich im Chaos der weltwirklichen Ereignisse und Wahrnehmungen noch an einer reinen Vernunft fest, die er aller Erfahrung gegenüberstellt und der er allgemein gültige synthetische Urteile a priori zu entnehmen versucht – erfahrungsunabhängige universale Wahrheiten als Formgebung für alle mögliche Erfahrung. Kant entwirft also ein vermeintlich wirklichkeitsunabhängiges Gefäß, in das dann die Wirklichkeit hineingezwungen werden soll. Abgesehen davon, dass die Wirklichkeitsdynamik stärker ist, als der kantische Zwang, und dass der kantische Zwang die sich aller Formung verweigernde Wirklichkeitsdynamik selbst verschärft: Eine Wirklichkeitsform im kantischen Sinne steht uns heute nicht mehr zur Verfügung. Wir wissen inzwischen (das ist schon die gegen Kant vorgebrachte Intuition Hegels), dass diese Form selbst wirklichkeitsabhängig, damit vielgestaltig und alles andere als stabil ist.
Die paulinische Befestigung von Denken und Leben ist radikaler noch als die kantische und drängt sich, jenseits der kantischen Sicherheiten, in einer Zeit der zunehmenden Gleich-Gültigkeit aller Gültigkeiten als letzte verbleibende Interpretation, als letzter verbleibender Ankerplatz für Denken und Leben geradezu auf. Konsequenter paulinischer Glaube lässt jedes weltwirkliche Fundament, lässt die Weltwirklichkeit insgesamt los und springt hinein in die Annahme eines totalen als ob nicht aller weltwirklichen Fundamente und Gültigkeiten. Diese Annahme ist kein synthetisches Urteil a priori im kantischen Sinne, keine metaphysische Sicherheit, die sich systematisch entfalten und als universale Formgebung auf die Weltwirklichkeit legen ließe. Ungültigkeitsglaube ist gewissermaßen ein total entsichertes Wagnis a priori, das der Einzelne in jeder sich stellenden Erfahrung erneut, aktuell und konkret zu wagen hat.
Damit ist gesagt: Egal, welche historischen Tatsachen als gesichert erscheinen, egal, welche Quellen sich als verlässlich erweisen, egal, welche Wahrheiten und Gültigkeiten noch als solche behauptet werden – der paulinische Ungültigkeitsglaube bleibt davon unberührt. Werden damit aber alle Ereignisse und Wahrnehmungen, werden alle weltwirklichen Fundamente des Denkens und Lebens irrelevant – insbesondere auch Kreuz und Auferstehung, insbesondere auch die Reflexionen dieser Ereignisse in der christlichen Heiligen Schrift? Nein und Ja zugleich.
Nein, weil unser Erkennen Erfahrung voraussetzt. „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft). Ohne Erfahrung keine Erkenntnis. Im Blick auf die christliche Religion heißt das auch: Ihre Tatsachen und Quellen sind ganz unabhängig von ihrer Verlässlichkeit insofern höchst relevant, als dass sie als historische Phänomene wirkmächtig geworden sind und wir sowohl einer intellektuellen als auch einer lebenspraktischen Auseinandersetzung mit ihnen gar nicht ausweichen können.
Ja, die christliche Religion, ihre Tatsachen und Quellen müssen uns irrelevant werden, weil uns bemerkenswerterweise gerade die intellektuelle und lebenspraktische Auseinandersetzung mit ihnen hineintreibt in den totalen Verlust sicherer weltwirklicher Fundamente. Wenn wir uns nun im Strom des Wirklichkeitsgeschehens noch irgendwo befestigen wollen (und das scheint mir dringend geboten), so müssen wir nach einem Ankerplatz des Denkens und Lebens außerhalb aller Erfahrung Ausschau halten.
Das ist die kantische Intuition. Kant selbst macht sich im Chaos der weltwirklichen Ereignisse und Wahrnehmungen noch an einer reinen Vernunft fest, die er aller Erfahrung gegenüberstellt und der er allgemein gültige synthetische Urteile a priori zu entnehmen versucht – erfahrungsunabhängige universale Wahrheiten als Formgebung für alle mögliche Erfahrung. Kant entwirft also ein vermeintlich wirklichkeitsunabhängiges Gefäß, in das dann die Wirklichkeit hineingezwungen werden soll. Abgesehen davon, dass die Wirklichkeitsdynamik stärker ist, als der kantische Zwang, und dass der kantische Zwang die sich aller Formung verweigernde Wirklichkeitsdynamik selbst verschärft: Eine Wirklichkeitsform im kantischen Sinne steht uns heute nicht mehr zur Verfügung. Wir wissen inzwischen (das ist schon die gegen Kant vorgebrachte Intuition Hegels), dass diese Form selbst wirklichkeitsabhängig, damit vielgestaltig und alles andere als stabil ist.
Die paulinische Befestigung von Denken und Leben ist radikaler noch als die kantische und drängt sich, jenseits der kantischen Sicherheiten, in einer Zeit der zunehmenden Gleich-Gültigkeit aller Gültigkeiten als letzte verbleibende Interpretation, als letzter verbleibender Ankerplatz für Denken und Leben geradezu auf. Konsequenter paulinischer Glaube lässt jedes weltwirkliche Fundament, lässt die Weltwirklichkeit insgesamt los und springt hinein in die Annahme eines totalen als ob nicht aller weltwirklichen Fundamente und Gültigkeiten. Diese Annahme ist kein synthetisches Urteil a priori im kantischen Sinne, keine metaphysische Sicherheit, die sich systematisch entfalten und als universale Formgebung auf die Weltwirklichkeit legen ließe. Ungültigkeitsglaube ist gewissermaßen ein total entsichertes Wagnis a priori, das der Einzelne in jeder sich stellenden Erfahrung erneut, aktuell und konkret zu wagen hat.
Im Sprung des Ungültigkeitsglaubens verändern sich Rolle und Relevanz auch der alten Tatsachen und Quellen des Christentums. Sie gelten nun nicht mehr als sichere Wahrheiten und Gültigkeiten, denen der Glaubende sich zu unterwerfen hat. Der Glaubende wird nicht mehr von Tatsachen und Quellen gebraucht. Er gebraucht sie vielmehr (wie andere Tatsachen und Quellen auch), um sich seiner Ungültigkeitsannahme zu erinnern und sich in ihr zu bestärken. Ungültigkeitsglaube ist also kein überlieferter, kein von außen herangetragener, kein fremder, allgemeiner und abhängiger Glaube mehr. Er ist ganz gegenwärtiger, ganz eigener und unabhängiger Glaube des Einzelnen.
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