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Montag, 21. März 2016

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Der katholische Theologe Karl Rahner hat gegen Bonhoeffers ohnmächtigen und mitleidenden Gott vorgebracht, dass ein Gott, dem es offenbar „genauso dreckig geht“ wie uns, kaum noch wirklichkeitsrelevant sein kann. Damit ist ganz richtig gesehen, dass uns der Verzicht auf positive Gültigkeitsbeziehungen zwischen Transzendenz und Immanenz hineinführt in Offenheit und Schwäche. Beides verschärft sich in Derridas Dekonstruktion, da hier nicht allein, wie schon bei Kant, die Weltwirklichkeit gegenüber transzendenten Gründen und Verheißungen abgeschlossen ist, sondern weil hier, in einem nächsten Aufklärungsakt, überdies alle bevollmächtigenden säkularen Ideale entzaubert sind.

Es ist jedoch ausgerechnet diese totale Schwächung, die Derrida nicht zuletzt in politische Stärke überführen will. Den Atheismus und Nihilismus der Dekonstruktion hebt er auf, indem er einen „schwachen Gott“ (John D. Caputo) zu denken beginnt, der nicht mehr in Präsenzen oder Repräsentationen zu finden ist, sondern in der Offenheit des immer Kommenden. Was mit diesem nie und nirgendwo zu befestigenden Gott gegeben ist, nennt Derrida ein „Messianisches ohne Messianismus“ oder eine „Religion ohne Religion“. Politisch relevant wird das so gewendete Messianische in der Öffnung für ein immer kommendes Anderes und für immer kommende Andere. Es ist nun nicht mehr irgendeine gewesene, gegenwärtige oder künftige Präsenz oder Repräsentation, die uns absolut bindet, sondern die Heteronomie des Anderen. Derridas Dekonstruktion fordert damit einen immanenten Polytheismus des Kommenden. Dieser Polytheismus verpflichtet zu einer „Politik der Freundschaft“ und zu „unbedingter Gastfreundschaft“.
Stark ist die Politik der Dekonstruktion darin, dass sie alle transzendenten und immanenten Götter und Ideale zurückzuweisen vermag, deren Präsenz auf die eine oder andere Weise politisch herbeigezwungen werden soll. Dekonstruktion ist das Ende politischer Religionen und Ideologien. Stark ist die Politik der Dekonstruktion auch darin, dass sie sich weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft zu befestigen versucht, dass sie sich nicht aus verlorenen oder ersehnten Utopien speist, sondern sich allein ins Hier und Jetzt geworfen versteht und nur dieses zu handhaben versucht.
Doch dann beginnt das Unbehagen. Einige mögliche Anfragen will ich zusammentragen: Sind wir tatsächlich in der Lage, so offen zu leben, wie es die Dekonstruktion fordert? Führt uns die Dekonstruktion nicht in die totale und unverbindliche Vereinzelung? Wie ist ein Zusammen- oder Miteinander noch denkbar? Brauchen wir nicht wenigstens ganz alltägliche Grenzen, die uns gewisse Präsenzen, Verlässlichkeiten und Zusammengehörigkeiten sichern – auch wenn wir wissen, dass sich darin kein Heil, kein Gott findet? Ist tatsächlich jedes kommende Andere gleich-gültig? Gibt es nicht auch ein Anderes, das schon diesseits der Idee präsenter Götter und Ideen ausgeschlossen sein muss? Schmuggelt die Dekonstruktion mit ihrem schwachen Gott im immer Kommenden möglicherweise doch wieder eine stille Heilsannahme ein, die zugleich blind macht für das Teuflische, das sich im Licht des Anderen auch verbergen kann? Ist diese Heilsannahme möglicherweise genauso totalitär, wie einst die religiösen und metaphysischen Götter und Ideen?
Ganz offensichtlich ahnt Derrida selbst, dass über die Dekonstruktion hinaus gedacht werden muss. Der flüssige Polytheismus, denn er anbietet, erscheint mir jedoch als anthropologisch unbefriedigend und politisch gefährlich. Vor allem aber ist darin nicht nur unmittelbar wieder aufgegeben, was Dekonstruktion eigentlich vorbereitet: Freiheit von den Göttern der Weltwirklichkeit. Vielmehr macht Derridas Heteronomie des Anderen den Einzelnen gerade zum Sklaven unzähliger Götter. Aus paulinischer Perspektive fehlt Derrida am Ende doch der Mut zum Sprung – zum Sprung des Glaubens, der endgültig von der Weltwirklichkeit und ihren Göttern befreit und der Wirklichkeit gerade dadurch dienlich wird.

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