Die Lösung für das spätmoderne Problem einer theoretischen Gründung und praktischen Stabilisierung von Staat und Politik wird nicht selten in Erweiterung und Intensivierung gesellschaftlicher Teilhabe gesucht. Radikaldemokratisierung im Sinne einer Stärkung zivilgesellschaftlicher Ansprüche und Diskurse scheint gegenwärtig das Mittel der Wahl zu sein. Dabei wird auch versucht, die Religion als vorpolitische Ressource neu zu verwerten. Die motivierenden, solidarisierenden und moralisierenden Potenziale religiöser Wirklichkeitsinterpretationen sollen im zivilgesellschaftlichen Diskurs staats- und politikkonsolidierend aktiviert werden.
Diesen (deutschen) Versuch, die Krise des modernen politischen Projektes zu überwinden, halte ich für wenig aussichtsreich. Das Gründungs- und Stabilitätsproblem wird nicht gelöst. Es wird in einer letzten Zuspitzung der modernen Mündigkeitsidee an den einzelnen Menschen weitergereicht und damit verschärft. Denn der einzelne Mensch hat in der Moderne selbst ein Gründungs- und Stabilitätsproblem. Er ist seiner selbst längst nicht mehr sicher und mächtig. Unter vormodernen Bedingungen hat er auf vermeintlich sichere religiöse oder metaphysische Interpretationen zurückgreifen und sich in daraus abgeleitete Repräsentationssysteme zurückziehen können. Im Gang der modernen Wirklichkeitsinterpretationen und der modernen Wirklichkeit selbst lässt sich diese Weise der Selbst- und Wirklichkeitsbemächtigung nicht mehr halten. Der Mensch wird zunehmend ohnmächtig. Unter den Bedingungen der späten Moderne wird die Wirklichkeit so übermächtig, dass der Mensch sich kaum noch von ihr zu distanzieren, sondern in ihr allein noch bürokratisch, technokratisch oder ökonomokratisch zu funktionieren vermag – mit überaus destruktiven Konsequenzen.
Den modernen Prozess destruktiver Selbstentmachtung von Mensch und Politik deute ich so, dass die Wirklichkeitsinterpretation der säkularen Moderne die ihr inhärenten Gefährdungen ihres eigenen politischen Projekts nicht selbst überwinden, sondern zuletzt lediglich verschärfen kann. Damit behaupte ich zugleich ein politisches Paradox der Aufklärung: Der Lauf der Dinge unter dem Diktat der säkularen (politischen) Wirklichkeitsinterpretation drängt zuletzt zum Übergang in eine neue, postsäkulare Wirklichkeitsinterpretation, in der sich ein verändertes politisches Sprachspiel und eine veränderte politische Wirklichkeit vorbereitet.
Ich halte das von Habermas eingebrachte Stichwort der Postsäkularität für hilfreich. Allerdings wende ich dieses Wort nicht funktionalistisch. Unter postsäkularer Interpretation verstehe ich selbst ein vorläufiges Denken im Übergang, das die wechselseitige Bedingtheit von Wirklichkeitsinterpretation und (politischer) Macht, von Glaube und Politik neu ins Bewusstsein hebt – dies allerdings unter nach-religiösen und nach-metaphysischen Bedingungen. Der Glaube des Einzelnen, vor allem aber auch der gemeinsame Glaube politischer Gemeinschaften wird wieder Gegenstand der Reflexion: Ist eine veränderte Einheit von Glaube und Politik notwendig und denkbar? Welcher nachsäkulare Glaube kann jenseits von Religion und Metaphysik noch gewollt werden? Welcher (gemeinschaftliche) Glaube überwindet die politische Krise der Gegenwart? Welche Vorstellungen von Politik und politischer Gemeinschaft sind in diesem Glauben angelegt? Und wie lässt sich dieser Glaube in politischen Gemeinschaften wirksam verankern?
Eine Antwort auf diese und andere postsäkulare Fragen zeichnet sich schon jetzt ab: Das politische Projekt der säkularen Moderne, der freiheitliche demokratische Rechtsstaat, wird langfristig nicht haltbar sein.
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