Als Messianismus bezeichne ich ganz allgemein die Erwartung einer Heilswirklichkeit, der Identität von Wirklichkeit und Gott, die sich politisch Ausdruck verschafft. Grob gefasst lassen sich fünf politisch relevante Messianismen unterscheiden, wobei die ersten vier Typen jeweils eine künftig (wenigstens annähernd) heile Weltwirklichkeit vor Augen haben: Destruktiver (gnostischer) Messianismus strebt nach einer Realisierung des Heils durch Weltverachtung und asketische Weltbekämpfung. Passiver (jüdischer) Messianismus erhofft einen künftigen Akt göttlicher Heilsstiftung, nötigt daher zu dauerhafter Vorläufigkeit in der Welt. Aktiver (jüdischer) Messianismus glaubt, den kommenden Heilsakt Gottes vorbereiten zu müssen, neigt damit zu politischer Rastlosigkeit. Konstruktiver (christlicher) Messianismus hält das Heil der Weltwirklichkeit bereits für gegenwärtig, allerdings bedarf es der politischen Realisierung. Reich der Welt und Reich Gottes werden politisch angenähert, Politik bläht sich auf zur heilenden Gestaltungsmacht über den Wirklichkeitsverlauf.
Von diesen vier Typen eines weltwirklichen Messianismus hebe ich den tätig wartenden (paulinischen) Messianismus ab. Paulus lässt die Weltwirklichkeit als möglichen Heilsort vollständig los und hängt seinen Glauben an das Heil einer ganz anderen Gotteswirklichkeit. Von einem ganz anderen Heil ausgehend, kann Paulus die unheile, gottlose Weltwirklichkeit schon jetzt so anschauen, als wäre sie ungültig, als wäre sie aufgehoben und überwunden. Politisch sind damit gnostischer Kampf und christliche Utopie überwunden, zugleich aber auch die jüdische Existenz sowohl in ihrer provisorischen als auch in ihrer aktivistischen Erscheinungsform. Paulus steht für eine radikale Politik des Hier und Jetzt, die weder nach Herkunft noch nach Zukunft fragt, die die jeweils vorgefundene Weltwirklichkeit ganz anzunehmen und sich ihrer ganz anzunehmen vermag – so, als wäre sie nicht. Mein Blog sucht auch nach Möglichkeiten, diese Politik für eine kommende Gegenwart näherungsweise zu reformulieren.
Paulinisch-messianische Politik nenne ich reservativ – im Gegenüber zur repräsentativen Politik der christlich-abendländischen Tradition. Religion und Metaphysik haben uns auf Repräsentation hin konditioniert. Wir setzen darauf, dass in unseren politischen Begriffen universalisierbare (Heils-)Wahrheiten für die Weltwirklichkeit präsent sind. Diese vermeintlichen Wahrheiten sind religiöser (Gott) oder metaphysischer (Idee) Herkunft und gebieten eine repräsentative Politik – eine Politik, die Wahrheit (Gott oder Idee) repräsentiert und zugleich Identität von Wahrheit und Weltwirklichkeit herzustellen versucht. Demgegenüber kennt paulinisch-messianische Politik keine (Heils-)Wahrheiten, die politisch zu exekutieren wären. Sie widersteht der destruktiven Neigung, die Wirklichkeit permanent einem religiös oder metaphysisch vorgegebenen Heil entgegenzubiegen. Paulinische Politik ist insofern reservativ, als dass sie den Platz des Göttlichen im Wirklichen frei hält und dauerhaft unbesetzt lässt. Tätig wartender Messianismus hofft allein auf das ganz andere Heil, nicht auf das Schauen des Heils im Weltwirklichen. Politisch unterwirft er sich daher nicht mehr den Gründen oder Verheißungen sichtbarer Götter oder Ideen, sondern müht sich vielmehr darum, den Raum reservativ zu entleeren, den religiöse oder metaphysische Wahrheiten unter repräsentativen Bedingungen beständig auszufüllen versuchen. Reservative Politik schließt die Möglichkeit der Veränderung von Weltwirklichkeit nicht aus. Sie macht sich diese jedoch nicht mehr zur Aufgabe, hält den Platz für Veränderung beharrlich frei und lässt sich sogar von einer veränderten Wirklichkeit nicht mehr gefangen setzen. Reservative Politik bleibt unabhängig von jeder beliebigen Welt, die sie vorfindet.
Welthaltung und Lebensweise, die einer reservativen Politik den Kontext bieten, nenne ich abrahamitisch. Meine These ist, dass Paulus mit seiner Interpretation von Kreuz und Auferstehung jenseits von Religion und Metaphysik die abrahamitische Wanderschaft erneuert und radikalisiert. Als messianisch Herausgerufener ist der paulinisch Glaubende von seiner natürlichen und kulturellen Herkunft und Zukunft entbunden. Er ist heimatlos in der Weltwirklichkeit. Beheimatet in einer ganz anderen Gotteswirklichkeit, interpretiert er sein Leben in der Weltwirklichkeit als Wanderung. Alles, was er hier empfängt, hat er schon immer losgelassen. Und selbst an weltwirklichen Orten und in weltwirklichen Zeiten der Verheißung begreift er sich als Fremdling. Gehalten von einer nicht-realen Gottesrealität ist er im Realen vom Realen für das Reale total befreit.
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