Die Alten gingen davon aus, dass es so etwas wie eine vorgegebene Ordnung und Harmonie gibt. Wenn Menschen und Gemeinschaften, so die Annahme, dieser Vorgabe möglichst genau entsprechen, dann wird alles gut, dann wird das bonum commune, das Gemeinwohl realisiert. Entsprechend wurden die Philosophien und Theologien entworfen. Inzwischen haben wir die Wirklichkeit ein wenig besser durchschaut. Mit den stabilen Vorgaben ist es nicht sehr weit her. Wir wissen heute, dass wir so etwas wie Harmonie gerade auch in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen in nicht unerheblichem Maße selbst herstellen und erhalten und dabei sehr viel Kraft aufwenden müssen.
Die einen setzen mehr auf Formen, die anderen eher auf Substanzen. Die Anhänger einer bloß formalen Verbindung von Menschen etwa durch Recht, Institutionen oder Verfahren wollen der Vielfalt von Substanzen und ihrer Verbindung möglichst viel Raum geben. Die Vertreter einer substanziellen Verbindung von Menschen etwa durch Liebe, Werte oder Kultur glauben dagegen, dass menschliches Miteinander stabiler gemeinschaftlicher Ressourcen bedarf. Für beide Wege spricht viel, beide Wege sind aber auch sehr voraussetzungsreich. Der formale Ansatz setzt darauf, dass eine für alle Betroffenen nachvollziehbare und verbindliche Form überhaupt gefunden werden kann. Zugleich ist die Stabilität dieser Form erheblich davon abhängig, dass sich die Vielfalt der von ihr erfassten Substanzen weitgehend selbständig und halbwegs dauerhaft zusammenfügt. Der substanzielle Ansatz setzt darauf, dass sich genügend starke Bindungskräfte menschlicher Gemeinschaft finden und erhalten lassen. Zugleich mutet er zu, andere, vielleicht sogar irritierende Bindungskräfte neben sich anzuerkennen.
Die Voraussetzungen für den formalen wie für den substanziellen Weg menschlicher Gemeinschaft gehen in den letzten Jahrzehnten unter den Bedingungen der Globalisierung verloren. Während die große Welt scheinbar zusammenrückt, fangen die kleinen Welten an zu zerfallen - formal wie substanziell. Verdeutlichen lässt sich das am Beispiel der traditionellen Ehe - einer idealtypischen Verbindung von Form und Substanz: Nicht wenige scheuen inzwischen die Ehe als Form oder suchen nach flexibleren Formgebungen. Zugleich werden heute unter der herkömmlichen Form Substanzen zusammengefügt, deren Verbindung vormals ausgeschlossen war. Gehen nun Substanzen wie Liebe im Sinne von Leidenschaft verloren, dann wird kaum noch nach Erneuerung der Leidenschaft oder nach veränderten Substanzen gesucht, dann wird noch nicht einmal die Form gewahrt. Dann wird weitergezogen und nach neuen Formen und Substanzen Ausschau gehalten. Was sollte uns daran hindern, es im Großen genauso zu handhaben?
Formen und Substanzen werden immer beweglicher und die Geschwindigkeit ihrer Bewegung nimmt zu. Die Bänder, die uns Menschen verbinden können, drohen mürbe zu werden - so formuliert es Jürgen Habermas. Die menschlichen Gemeinschaften auf unserem Globus treiben derzeit auf das zu, was die modernen Form- oder Substanzgebungen gerade verhindern wollten: auf einen natürlichen Zustand der Menschen, der eben nicht Harmonie ist, sondern Krieg aller gegen alle. Gibt es Formen oder Substanzen, die das verhindern können? Die Gefahr ist groß, dass wir zu radikalen, möglicherweise sogar wieder zu religiösen Lösungen greifen, weil wir uns nicht anders zu helfen wissen: In seiner Enzyklika Caritas in Veritate hat Papst Benedikt XVI. im Jahr 2009 eine starke politische Weltautorität gefordert. Was damit drohen würde, kann man sich lebhaft ausmalen. Hoffentlich setzt sich rechtzeitig eine andere Antwort durch.
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