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Samstag, 5. März 2016

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Rudolf Bultmanns theologisch begründetes Entmythologisierungsprogramm hat nicht nur den biblischen Texten, sondern religiösen (Offenbarungs-)Texten überhaupt jede hermeneutische Tiefe und damit alle geheimnisvolle „Herrlichkeit“ (Karl Jaspers) genommen.

Der französische Philosoph Paul Ricœur will diese radikale Ernüchterung durch das überwinden, was er „zweite Naivität“ nennt. Dass den mythisch-religiösen Texten wirklichkeitserschließende Realität und Bedeutung innewohnt, ist die Annahme einer „ersten Naivität“, die endgültig als verloren hingenommen werden muss. In einer nun zu vollziehenden Wendung soll den Texten ihr Gehalt und ihre Kraft zurückgegeben werden: durch einen in „zweiter Naivität“ gewagten Interpretationsakt, der das, was Wirklichkeit und Mensch zu demaskieren vermag, allererst in die mythisch-religiösen Texte hineinlegt. Ricœur steht mit diesem Gedanken ganz in der modernen, aufgeklärten Vernunfttradition des als ob: Wahrheit und Wirklichkeitsorientierung sind nicht vorgegeben, sondern müssen interpretierend konstruiert werden.
Ricœurs „zweite Naivität“ darf nicht verwechselt werden mit der messianischen Kindlichkeit, die Jesus fordert (Mark 10,15). Die messianische Kindlichkeit lässt erste und zweite Naivität Ricœurs hinter sich. Sie setzt weder auf herausinterpretierte noch auf hineininterpretierte Gültigkeiten in der Weltwirklichkeit. Sie setzt vielmehr auf die Gültigkeit einer ganz anderen Wirklichkeit, obwohl rein gar nichts für deren Gültigkeit spricht. Und sie setzt als ob nicht auf die totale Ungültigkeit der Weltwirklichkeit, obwohl wirklich alles für deren Gültigkeit zu sprechen scheint. Damit ist einerseits die zauberlose Nichtigkeit der Weltwirklichkeit und ihrer Vertextungen nüchtern durchschaut, zugleich aber die totale Freiheit von dieser Nichtigkeit gewonnen.



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