Die Interpretationen, durch die hindurch wir die Wirklichkeit wahrnehmen und einschätzen, sind vielfältig bedingt: durch unsere genetische Disposition, durch das unmittelbare Milieu, in dem wir aufgewachsen sind, durch unsere Erfahrungen, also die unzähligen Traumata, die Eindrücke des Glücks oder des Leids in uns hinterlassen haben. Linguistic turn und cultural turn in den Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts haben uns darauf aufmerksam gemacht, wie stark unsere Vernünftigkeiten abhängig sind vom kulturellen Kontext und von der Sprache, in denen uns Wirklichkeit vermittelt wird. Besonders unangenehm ist uns die Entdeckung des Unbewussten durch die Psychoanalyse. Insgesamt scheint es angesichts dieser Vorbedingungen geradezu lächerlich, von Freiheit im Denken und Handeln zu sprechen - was ja unmittelbar auch unsere Vorstellung möglicher Macht über die Wirklichkeit in Frage stellt. Dazu wird noch manches zu formulieren sein.
Unter den verschiedenen Wirklichkeitsinterpreten lassen sich drei Typen ausmachen: die Pessimisten, die Realisten und die Optimisten. Von jedem dieser drei Typen gibt es jeweils eine eher aktive und eine eher passive Erscheinungsform. Der Pessimist erwartet immer den schlechtesten Verlauf der Dinge, wobei der passive Pessimist zum Rückzug, der aktive Pessimist zum Lamento neigt. Der Optimist sieht immer goldene Wirklichkeiten auf sich zukommen. Dabei hängt sich der passive Optimist an mystisch-esoterische Kalendersprüche, der aktive Optimist krempelt gerne die Ärmel hoch. Realisten dagegen behaupten, sie hätten gar kein spezifisches Bild von Wirklichkeit, sondern würden die Wirklichkeit ganz nüchtern so nehmen, wie sie ist. Der passive Realist mogelt sich gerne durch, der aktive Realist greift auch schon mal zur Waffe. Jeder dieser Typen steht für eine je eigene Wahrheit, jeder dieser Typen kann aber auch fürchterlich nervtötend sein. Wenn ein passiver Pessimist und ein aktiver Optimist aufeinander treffen, dann brennt die Luft. Besonders problematisch ist jedoch, dass diese Zugänge zur Wirklichkeit sämtlich gefährlich werden können - nämlich dann, wenn sie Handlungen auslösen, die alles andere als hilfreich sind, oder wenn sie genau das verhindern, was notwendig wäre.
Ob wir nun Pessimisten, Realisten oder Optimisten sind - letztlich verbirgt sich hinter unseren verschiedenen Weisen, die Welt zu deuten und uns in ihr zu verhalten, wohl vor allem eines: Angst. Angst davor, die Wirklichkeit könnte sich unserer Macht entziehen. Vor dieser Angst fliehen wir in den Schutzraum unserer Interpretationen.
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