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Dienstag, 22. März 2016

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Mein Denkweg nach dem Ende eines transzendenten Gottes, den es „gibt“, führt in der Gottesfinsternis von Bonhoeffers Religionslosigkeit über Derridas Dekonstruktion zurück zu Paulus. Wie das?

Zunächst ist da Bonhoeffers reformatorische Intuition, die er selbst spätestens seit dem 30. April 1944 im Gefängnis auszuformulieren beginnt: „Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum, oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist.“ Bonhoeffer sucht nicht nach einer Möglichkeit, sich der modernen Welt theologisch anzuschmiegen, sondern er ahnt, dass er aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts das Wagnis eingehen muss, das Christusereignis und seine historischen Wirkungen umzuinterpretieren, also weiter aufzuklären und besser verstehen zu lernen. Luther und Calvin folgen dieser Ahnung unter den Voraussetzungen des 16. Jahrhunderts und stützen die eigenen Uminterpretationen auf die Setzungen des frühen abendländischen Christentums: auf die Schrift, die Kirchenväter und die ökumenischen Konzile zwischen Nicäa (325 n. Chr.) und Chalcedon (451 n. Chr.). Bonhoeffer will nun auch diese frühen Setzungen einer „Revision“ unterziehen. Er sieht sich geradezu „auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen“. Es geht um nicht weniger, als um eine Neufassung und Neuinterpretation dessen, was man als das „Wesen des Christentums“ (Adolf von Harnack) bezeichnen könnte.
Bei dem Versuch, dieses Anliegen zunächst zu erfassen und dann die bei Bonhoeffer bloß angedeuteten Linien weiter auszuziehen, habe ich nur sehr langsam wahrgenommen, dass mich meine Bemühungen zuletzt neu vor Paulus stellen würden. Bonhoeffer selbst wagt erste Uminterpretationen paulinischer Begriffe. Adolf von Harnack verweist mich auf den christlichen Häretiker Marcion und den von ihm ausgelösten Streit um Paulus. Bei meinen ersten Gehversuchen in der Bonhoeffer-Forschung werde ich an die New Perspective on Paul erinnert, die für meine eigene Weiterentwicklung hilfreich sein könnte. Meine ideengeschichtliche Selbstvergewisserung über das Gewordensein und den gegenwärtigen Stand des abendländischen Denkens bleibt zunächst in der französischen Phänomenologie hängen, wo ich offene oder verborgene Verweise auf Bonhoeffer und Paulus beobachte. Den endgültigen Anstoß gibt mir jedoch die jüngere politische Philosophie in Italien und Frankreich, die nicht zuletzt im Anschluss an oder in Auseinandersetzung mit Jacques Derrida ein ganz eigenes Bild von Christentum und Christusereignis entwirft – verbunden mit einer ausdrücklichen Neuinterpretation und Vergegenwärtigung paulinischer Theologie. Wichtig sind für mich Jean-Luc Nancy, Alain Badiou, Slavoj Žižek, Gianni Vattimo und Giorgio Agamben.
Die Impulse, die ich hier aufnehme, treffen auf eine lange in mir schlummernde Irritation: Schon als Kind habe ich bei der Lektüre von Paulustexten eine gewisse Spannung wahrgenommen zwischen dem Gelesenen und den dogmatischen und ethischen Selbstverständlichkeiten des Christentums. Früher habe ich mir diese Irritation damit erklärt, dass ich wohl vieles noch nicht richtig verstanden haben kann. Heute denke ich, dass ich im Gegenteil ganz richtig verstanden habe – und ich beginne damit, Paulus ganz unchristlich umzuinterpretieren.

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