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Samstag, 19. März 2016

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Bonhoeffers Religionslosigkeit ist eine erste Annäherung an den Versuch, Gott jenseits des Scheiterns der säkularen Rekonstruktion des christlichen Gottes in der Moderne zu behaupten. Auf der Linie dieses Versuches schreitet gerade nicht die noch ganz moderne Gott-ist-tot-Bewegung voran, sondern vielmehr die französische Nachkriegs-Phänomenologie. Der Philosoph Dominique Janicaud hat auf eine darin vollzogene „theologische Wende“ aufmerksam gemacht. Diese Wende lässt sich auch zurückführen auf starke Impulse aus dem jüdisch inspirierten politischen Denken nach Auschwitz.

Eine Sonderstellung nimmt für mich in diesem Zusammenhang Jacques Derrida ein. Derrida, selbst jüdischer Herkunft, steht zunächst für das, was er Dekonstruktion nennt – für den Versuch, den vermeintlichen Gehalt und Sinn von Texten auf neue Weise zu befragen. In dieser Neubefragung wird das, was Bonhoeffer in seiner Gefängnistheologie mit den Begriffen Religionslosigkeit und Gottlosigkeit zu fassen versucht, gewissermaßen konkret und radikalisiert. Derridas Überlegungen sind oft endlose und nicht selten ermüdende Sprachspiele. In diesen Spielen ereignet sich vieles, vor allem aber dies: Es offenbart sich, dass wir in unsere Symbolsysteme nichts endgültig Greifbares hineinlegen und dass wir aus Symbolsystemen nichts endgültig Greifbares herausholen können. Alle Hermeneutik, alles Interpretieren ist die Suche nach letzter Bedeutung, nach Halt, nach Orientierung. Doch keine Bedeutung ist irgendwo oder irgendwann präsent. Jede Bedeutung ist immer schon genommen, immer und überall treffen wir auf das, was Derrida différance nennt (absichtlich mit a, also falsch geschrieben) – auf den unendlichen Aufschub von Präsenz und Identität. Jeder Sinn ist auf ewig im Kommen und damit letztlich verloren. Das gilt für alle Selbstvergewisserungsversuche des Einzelnen, vor allem aber auch für diskursive Vergewisserungsbemühungen von Gesellschaften.
Derridas Dekonstruktion hat dramatische Folgen für die Religion, für die Metaphysik und für die Interpretation von Weltwirklichkeit. Religion und Metaphysik behaupten von ihren Göttern oder Idealen, sie seien irgendwann und irgendwo präsent, in der Vergangenheit oder in der Zukunft, im Denken oder in den Erscheinungen. Entsprechend werden dogmatische und ethische Forderungen formuliert, die uns anleiten sollen, der Präsenz von Gott oder Ideal gerecht zu werden oder ihr nahe zu kommen. Derrida spricht in diesem Zusammenhang von einem konstativen und einem performativen als ob, von einer fiktiven Präsenz, die unserer Existenz zu Grund liegen oder auf die unsere Existenz zusteuern soll – stets verbunden mit spezifischen Glaubens- und Handlungserwartungen. Beide Fiktionen fallen Derridas Dekonstruktion zum Opfer, zugleich aber auch der mit ihnen verliehene Halt und die mit ihnen gegebene Orientierung. Theologisch formuliert: Alle Götter, transzendente wie immanente, sind gleichermaßen verloren. Jeder Gott, den es „gibt“, ist immer schon entzogen. Es „gibt“ nur noch eine einzige reale Realität, aber auch diese Realität ist immer und überall radikal gottlos. Was bleibt uns dann aber noch zu denken und zu tun übrig?
Dekonstruktion hat auch und gerade dramatische politische Konsequenzen. Derrida selbst versucht, die totale Offenheit, in die uns die Dekonstruktion hineinstellt, für ein neues Denken und vor allem auch für eine neue Politik fruchtbar zu machen. Diese (fragwürdigen) Bemühungen sollen vorerst nicht interessieren. Ich will an dieser Stelle nur kurz darauf hinweisen, dass das jüdische wie das christlich-säkulare politische Denken mit Derrida seinen jeweils eigentümlichen innerwirklichen Messianismus aufgibt und aufgeben muss. Ganz grob formuliert ist das Judentum (in gewissem Sinne auch der Islam) insofern eine Gott-ist-tot-Religion, als dass es alle sichtbaren, innerwirklichen Götter als Nichtse begreift (Ps 96,5). So gesehen ist das Judentum eine Erscheinungsform des Atheismus und des Nihilismus. Und doch hofft das messianische Judentum auf ein kommendes, innerwirkliches messianisches Ereignis, das Recht und Gerechtigkeit schaffen wird unter den Völkern. Das Christentum behauptet nun, dieses messianische Ereignis liege schon hinter uns und müsse bloß noch global realisiert werden – im Wechselspiel zwischen göttlichem und menschlich-missionarisch-politischem Wirken. Der eine wie der andere, der jüdische wie der christliche Messianismus erweist sich in der Dekonstruktion Derridas als ewige Illusion. Hoch spannend ist nun, dass das Ende der jüdischen und der christlichen Illusion historisch zusammenfällt einerseits mit der politischen Sammlung des Judentums an seinem alten, messianisch aufgeladenen Heilsort, andererseits mit der globalen politischen Überdehnung des christlich-säkularen Messianismus, der die Welt mit seiner Idee des Menschenrechts als entpersonalisiertem Gott nun endgültig zu heilen versucht. In diesen Entwicklungen sehe ich eine überaus gefährliche coincidentia oppositorum, ein letztes Aufbäumen illusorischer politischer Messianismen, das zugleich große Chancen für eine globale interpretatorische und politische Wende in sich trägt.
Derridas Dekonstruktion ist eine groß angelegte Aufklärungs- und Enttäuschungsveranstaltung, die ähnliche Qualitäten hat wie Ockhams Aufklärung im hohen Mittelalter. Wenn die Dinge gut laufen, dann läutet Derrida, wie Ockham, eine nächste reformatorische Epoche ein – mit nun tatsächlich befreienden politischen Nachwirkungen. Damit dies möglich werden kann, müssen wir allerdings Derridas Aufklärung erst einmal aushalten und uns im Denken wie im Leben allen restaurativen, religiösen oder metaphysischen Gegenbewegungen verweigern. Derrida wirft uns hinein in den Karsamstag von Denken und Leben, in den Tag nach dem endgültigen Tode jedes sichtbaren Gottes. Der Gott, den es „gibt“, ist tot – der transzendente wie der immanente, der religiöse wie der säkulare. Alles kommt nun darauf an, wie wir von diesem Punkt aus weiterdenken und weiterleben.

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