Alle öffentlichen Debatten, die durch „Terror“ losgetreten werden, sind mehr oder weniger voraussetzungsreiche Gültigkeitsdebatten, die gefällten Gültigkeitsurteile sind abhängig von den jeweils behaupteten ideologischen oder faktischen Prämissen. Das Stück „Terror“ erinnert eindringlich daran, dass unsere ethischen und rechtlichen Gültigkeitsrationalitäten in Ausweglosigkeiten (Dilemmata) oder Offenheiten (Aporien) hineinführen können – entweder, weil sie auf einen unauflöslichen Selbstwiderspruch hinauslaufen, oder weil sie uns eine Praxis zumuten, die uns nur schwer oder gar nicht erträglich erscheint.
Anmerkung: Sowohl die prinzipielle Rationalität (Menschenwürde lässt sich nicht verrechnen) als auch die pragmatische Rationalität (im Zweifelsfall ist das kleinere Übel zu wählen) zwingt ja im Fall „Terror“ zu einer spezifischen, auf unterschiedliche Weise unerträglichen Praxis. Der prinzipientreue Gültigkeitsrationalist darf keinesfalls schießen und nimmt unter Umständen den Tod von 70.000 Menschen in Kauf. Der pragmatische Gültigkeitsrationalist muss unbedingt schießen und ist für die aktive Tötung von 164 Menschen verantwortlich. Aus diesen Unerträglichkeiten bleibt dem Prinzipientreuen wie dem Pragmatiker allein die Zuflucht in die zweifelhaften Entlastungsmechanismen seiner jeweiligen Rationalität.
Angesichts möglicher Ausweglosigkeiten und Offenheiten wird hier und da an die Grenzen von Ethik und Recht erinnert. Zu selten wird aber daran erinnert, dass Ethik und Recht immer bloß Fiktion sind: eine Fiktion, die uns den Eindruck vermittelt, als sei uns die Entscheidung abgenommen, als müsse nicht mehr entschieden werden. Diese Fiktion ist nicht ungefährlich. So verschleiert sie, dass Ethik und Recht selbst auf Entscheidungen zurückgehen, auf die (letztlich dogmatische) Setzung bestimmter Gültigkeiten und daraus abgeleiteter Rationalitäten. Diese Setzungen sind durchaus erklärbar. Sie dienen vor allem der Kontingenzbewältigung, helfen also einerseits gegen die Angst vor unberechenbaren und unbeherrschbaren Wirklichkeitsverläufen, andererseits befriedigen sie die Sehnsucht nach Bequemlichkeit, den Wunsch danach, im jeweiligen Hier und Jetzt nicht immer wieder aufs Neue entscheiden zu müssen. Doch spätestens dann, wenn ethische und rechtliche Rationalitäten nicht mehr weiterhelfen, wenn sich die Wirklichkeit ihrem beherrschenden oder lösenden Zugriff entzieht, spätestens dann lässt sich zumindest ahnen, dass keine Gültigkeitsrationalität letzte Zuflucht bieten kann vor der Entscheidung.
Diese Ahnung verbindet sich üblicherweise mit dem Namen Carl Schmitt, der den staatlich gestifteten Rechtszustand vom Ausnahmezustand her zu denken versucht. Souverän ist bei Schmitt nicht, wer nach rechtlichen Rationalitäten funktioniert. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Schmitt ist noch tief verankert in der römisch-christlichen Gültigkeitstradition und kommt daher nicht über eine repräsentative Souveränitätsidee hinaus (die ihn unter nationalsozialistischen Vorzeichen zu unheilvollen Allianzen verleitet).
Reservativ überholt kann Schmitts Diktum vielleicht so formuliert werden: Souverän ist, wer nicht mehr zwischen Ausnahme und Regel unterscheidet. Souverän ist, wer in seinen Entscheidungen nicht mehr nach Ausnahme und Regel funktioniert. Souveränität beginnt erst jenseits repräsentativer Interpretation und Praxis. Reservative Souveränität ist nicht der Einstieg in neue Optionen der Praxis. Sie ist aber der Ausstieg aus den Scheinentlastungen von repräsentativer Ethik und repräsentativem Recht.
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