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Freitag, 29. April 2016

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Was bietet der christliche Gott und welchen (Selbst-)Transformationen unterzieht er sich in seiner etwa 1700jährigen Geschichte?

Für die unverantwortlich knappe und grobe Typisierung, die ich hier andeute, ist es unerheblich, dass es unterschiedliche Perspektiven auf diesen Gott gibt – die Perspektive des Glaubenden einerseits, für den Existenz, Wesen, Zuspruch und Anspruch seines Gottes relevant sind, die moderne sozialwissenschaftliche Perspektive andererseits, die von außen kommend verschiedene Funktionen des christlichen Gottes zu analysieren versucht. Unerheblich ist auch, dass unendlich viele Fakten und Erfahrungen meiner Typisierung entgegen stehen. Mich interessiert allein der große breite Strom der Wirklichkeitsentwicklung. Seine Seiten- und Altarme sind irrelevant, genauso wie alle schwimmenden Inseln des vermeintlich alternativen Wahrnehmens und Interpretierens, die ihren Bewohnern den Eindruck vermitteln, sie seien der Bewegung des allgemeinen Stroms entzogen.

Der christliche Gott bietet ein umfangreiches und attraktives Komplettpaket. Er wendet sich an alle Menschen, macht sich ihnen ähnlich und über seine weltwirklichen Repräsentationen zugänglich, in Teilen sogar verfügbar. Er gibt eingängige religiöse Antworten auf die Fragen nach Herkunft, Gegenwart und Zukunft der Weltwirklichkeit. Dabei sind die Verheißungen, die er vermittelt, deutlich verlockender als die Angebote anderer Götter. Er verspricht eine Heilsgeschichte, eine zunehmende Annäherung von Transzendenz und Immanenz. An dieser Geschichte darf und kann der Mensch mitwirken: Er muss lediglich die Gesetze des richtigen Denkens (Dogmatik) und die Gesetze des richtigen Handelns (Ethik) beachten. Seine Unzulänglichkeiten und sein Scheitern werden aufgefangen in entlastenden Vergebungsmechanismen. Der Rest ist Gnade. Alles in der Weltwirklichkeit noch Vorläufige und Unvollständige wird gnädig vollendet in der endgültigen Vergegenwärtigung Gottes. Dieses Ereignis ist unverfügbar und unberechenbar.

(Selbst-)Transformation 1: So wie der erwartete Messias einst ausblieb, so bleibt auch der Weltheilungsprozess aus, den der christliche Gott verheißen hat. Zudem werden gerade im Streit um den christlichen Gott die vermeintlichen Analogien zwischen Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit fragwürdig. Die Reformation kann bloß noch eine sehr begrenzt repräsentationsfähige als ob Version des christlichen Gottes behaupten. Übrig bleibt der in der Schrift offenbarte Gott, von dem man allerdings nicht mehr sicher sein kann, ob und inwieweit er mit dem „wirklichen“ (verborgenen) Gott übereinstimmt. Der reformatorische als ob Gott ist nicht mehr allgemein zugänglich, sondern allein noch über einen göttlichen Gnadenakt. Ähnliches gilt für die Gesetze des rechten Denkens und Handelns. Ihre Beachtung zielt nun nicht mehr auf Weltbesserung. Die Idee des Heils wird transzendiert, die Welt wird bloß noch konserviert. Nach seiner ersten (Selbst-)Transformation ist der christliche Gott damit deutlich nüchterner, exklusiver und individueller.

(Selbst-)Transformation 2: Der reformatorische als ob Gott ist dafür wesentlich mitverantwortlich, dass die Weltwirklichkeit sich gegenüber der Transzendenz verschließt und sich verselbständigt. Unübersehbar viele Ereignisse und Uminterpretationen greifen nun ineinander. Ein neuer Gott betritt die Bühne der Zeit: der Mensch, der als ob Gott der Moderne, der den alten christlichen Traum vom Heil der Welt nicht nur erneut zu träumen, sondern nun selbständig zu realisieren beginnt. Ein als ob Gott ist dieser Gott, insofern er nicht mehr transzendent, sondern restlos immanent ist. Und insofern er seine Forderungen und Versprechungen zunächst noch als bloße Fiktionen formuliert, als „Postulate“ oder als „regulative Ideen“ (Kant). Eine Auferstehung des christlichen Gottes ist der moderne Gott, insofern er wieder ein allgemeiner Gott ist. Insofern er alle Fragen beantworten und alle Probleme lösen kann. Insofern er nach allgemeinen Gesetzen zu denken und zu handeln lehrt. Und insofern er spätestens mit Hegel zu versprechen beginnt, die Geschichte sei als Heilsgeschichte gar nicht aufzuhalten. An diesem Punkt seines Werdegangs legt der als ob Gott der Moderne alle Hemmungen ab und wird sogar noch euphorischer als der erste christliche Gott. Er gibt die von diesem noch gewahrte Weltdistanz auf, lässt insbesondere die reformatorische Ernüchterung hinter sich, unterzieht alle Verheißungen einer radikalen Säkularisierung und verwirft jeden eschatologischen Vorbehalt, also das Bewußtsein dafür, dass das Kommende letztlich unverfügbar und unberechenbar bleibt.

(Selbst-)Transformation 3: Der säkulare als ob Gott der Moderne leistet Eindrückliches, aber auch Erschreckendes. Das Erschreckende wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so übermächtig, dass sich der christliche Gott eine vorläufig letzte Transformation zumuten muss. Er verflüchtigt sich im als ob nicht Gott der postmodernen Dekonstruktionen. Dieser (schwache) Gott entzaubert seine religiösen und säkularen Vorgänger. Er verzichtet auf ihre Begründungen, auf ihre Welterklärungen, auf ihre Wahrheiten, auf ihre Moral und auf ihre Verheißungen. Die Weltwirklichkeit wird unter seiner Herrschaft zu einem letztlich sinn- und trostlosen Raum, der sich weder erklären noch anordnen lässt – der aber auch gar nicht erklärt und angeordnet werden darf. Denn alle Erklärungen und Anordnungen tragen ein unkalkulierbares und unbedingt zu überwindendes Gewalt- und Katastrophenpotenzial in sich. Der postmoderne als ob nicht Gott fordert die totale Öffnung von Denken und Handeln. Alle Erscheinungen und alle Interpretationen werden gleich-gültig. Der Weg des christlichen Gottes durch die abendländische Geschichte vollendet sich damit im vollendeten Nihilismus.

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