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Montag, 17. Oktober 2016

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In seiner Theologischen Ethik wirft Helmut Thielicke die Frage auf, ob man andere Menschen gewissermaßen beim Schopfe ihrer je eigenen Gültigkeiten packen könne, auch wenn man selbst diese Gültigkeiten nicht anerkenne.

Seine Antwort: „Ich kann durchaus jemanden verbindlich auf etwas ansprechen, das zwar für mich selber nicht gültig ist, von dem ich aber weiß, daß es für den andern innerhalb seines Wertsystems sehr wohl gilt. Das wurde von seiten der Kirche während des Dritten Reiches immer wieder getan und sozusagen erprobt: Man konnte den Nationalsozialismus und sein Antichristentum z. B. auf ‚Führer’-Aussagen festlegen, auch wenn man selber diesen Führerglauben keineswegs teilte und ihm geradezu ablehnend gegenüberstand. Charakteristisch für diese Art des Vorgehens war etwa die Art, wie die Kirche (und wie wohl auch die Anstalt Bethel) sich mit dem Irrenmord auseinandersetzte: Sie wies gegenüber der These vom ‚lebensunwerten Leben’ darauf hin, daß die Anstalten sich weitgehend selbst erhielten; sie zeigte durch Statistiken, daß selbst geistig schwer Belastete, wenn man ihnen geeignete Arbeiten aussucht, durchaus produktive Arbeit zu leisten vermögen usw. Mit andern Worten: Hier redete man den Nationalsozialismus (gottlob nicht nur, aber jedenfalls doch auch) innerhalb seiner pragmatischen Voraussetzungen an […]. Diese Möglichkeit, den andern innerhalb seiner Wertordnung anzusprechen, beruht nun in der Tat auf einem ethischen Axiom: auf dem Prinzip nämlich, daß Denken und Handeln, Idee und Existenz, Logos und Bios […] in Übereinstimmung sein sollen. Insofern kann man jemanden auf seine Gesinnungstreue und Konsequenz anreden bzw. man kann ihn als Heuchler entlarven.“
Thielickes Überlegungen sind noch ganz eingebettet ins christliche Gültigkeitsparadigma, formulieren jedoch eine durchaus hilfreiche Intuition: die Intuition eines möglichen Gebrauchs weltwirklicher Gültigkeiten. Unter den Bedingungen des messianischen Ungültigkeitsparadigmas ist der von Thielicke angedeutete Wirklichkeitsgebrauch gewissermaßen universalisiert und auf Dauer gestellt. Die höchst spannende Herausforderung reservativen Lebens ist diese: reservativer Gebrauch aller weltwirklichen Gültigkeiten und der mit ihnen gegebenen Rationalitäten oder Ursache-Wirkungs-Mechanismen. Die weltwirklichen Gültigkeiten sind bei ihrem repräsentativen Schopfe zu packen – nicht, um durch ihren Gebrauch die Weltwirklichkeit zu transformieren, sondern um sie im Hier und Jetzt zu entmachten, um ihnen hier und jetzt interpretierend und praktisch den Stachel zu nehmen. Ein eindrückliches Beispiel dafür bietet Paulus durch seine Berufung auf den römischen Kaiser (Apg 25,11). Was er mit diesem Gebrauch seines römischen Bürgerrechts gewinnt, ist vor allem Zeit – Zeit für die Entfaltung und Verbreitung seiner Interpretation und Praxis. Ganz ähnlich lässt sich auch der freiheitliche säkulare Rechtsstaat und das mit ihm gesetzte Bürgerrecht gebrauchen.

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