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Freitag, 6. Mai 2016

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Was die paulinische Uminterpretation der Weltwirklichkeit zumutet und meint, lässt sich halbwegs andeuten mit Hilfe zweier Szenen aus dem ersten Teil der Matrix-Trilogie: der Spoon- und der Dojo-Szene.

Nach seiner Befreiung und vorläufigen Ausbildung muss Neo erstmals zurück in die Matrix. Morpheus will ihn dem Orakel zur Prüfung vorstellen. Während Neo darauf wartet, zum Orakel vorgelassen zu werden, beobachtet er im Wohnraum ihres Appartements einen kleinen Jungen, der wie ein buddhistischer Mönch gekleidet ist. Der Junge sitzt auf dem Boden, hält einen Löffel in der Hand und verbiegt diesen Löffel offenbar allein durch die Kraft seiner Gedanken. Der Junge reicht Neo den Löffel. „Versuch nicht, den Löffel zu verbiegen“, erklärt er. „Das ist nämlich nicht möglich. Versuch dir stattdessen einfach die Wahrheit vorzustellen.“ „Welche Wahrheit?“, fragt Neo. „Den Löffel gibt es nicht.“ „Den Löffel gibt es nicht?“ „Dann wirst du sehen“, fährt der Junge fort, „dass nicht der Löffel sich biegt, sondern du selbst.“
Neo weiß mittlerweile, dass es zwei Wirklichkeiten „gibt“: die reale Welt, von der er bislang nichts wusste, und die virtuelle Welt der Matrix, die ihm vor seiner Befreiung als tatsächliche und einzige Realität erschien. Im Dojo, dem Simulationsraum zur Vorbereitung auf die Kämpfe in der Matrix, hat Neo erfahren, dass die Matrix naturgesetzlichen Mechanismen folgt, und dass er manche Gesetze der Matrix verbiegen, manche sogar durchbrechen kann. Nun muss er in der Matrix lernen, dieses Wissen zu gebrauchen. Die einzige Waffe, auf die er dabei zurückgreifen kann, ist seine Interpretation. Die Matrix und ihre Gesetze lassen sich weder verbiegen noch durchbrechen. Indem Neo jedoch sich selbst verbiegt und durchbricht, indem er seine bisherigen Wirklichkeitsinterpretationen radikal verwirft und sich einer konvertierten Interpretation permanent vergewissert, wird er selbst mächtig in der Matrix. Die Mechanismen der Matrix beugen sich seinem Willen.
Alles ist anders, als es scheint. Besser: Alles muss, gegen den Schein der Weltwirklichkeit, anders interpretiert werden, sonst bleiben wir den Mechanismen der Welt nicht nur ohnmächtig ausgeliefert, sondern tragen zudem zu ihrer Ermächtigung und Dynamisierung bei. Allerdings: Was Paulus zumutet, ist deutlich fordernder als das, was Neo zugemutet wird. Und die Wirklichkeitsmacht, die der paulinischen Uminterpretation entwächst, ist nicht jene Macht, die Neo über die Gesetze der Matrix ausübt. Die ganz andere Gotteswirklichkeit des Lebens ist uns weder rational noch sinnlich zugänglich. Diese Wirklichkeit „gibt“ es nicht, wir „wissen“ sie nicht, und doch müssen wir sie für „wirklich“ halten und sie als unsere Heimat annehmen. Das wiederum verlangt uns unmittelbar ab, die Weltwirklichkeit des Todes als aufgehoben und überwunden, als ungültig zu begreifen. Damit ist allerdings nicht behauptet, die Welt sei nicht real, sie sei bloß Simulation. Im Gegenteil: Es „gibt“ nur eine Realität, die wir „wissen“ – die Weltwirklichkeit. Und deren Gesetze lassen sich weder biegen noch durchbrechen. Indem wir die Strukturen, Mechanismen und Gesetze der Weltwirklichkeit jedoch als ungültig interpretieren, verlieren sie ihre Macht über uns. Wir müssen uns nicht mehr ihrem „Willen“ beugen. Das paulinische als ob nicht ermächtigt uns also nicht dazu, Löffel zu verbiegen (es geht gerade nicht um wirklichkeitstransformierende Zeichen und Weisheiten: 1 Kor 1,22). Es ermächtigt uns dazu, von der Weltwirklichkeit nicht mehr verbogen zu werden. Und das hat erhebliche Konsequenzen für unser Handeln – und damit zugleich für den Lauf der Weltwirklichkeit.

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