Das römische Großchristentum setzt zu diesem Zweck nicht zuletzt auf Gesetz und Recht. Beide werden christlich-religiös hinterlegt, also mit christlichen Gründen und Verheißungen aufgeladen. Sie gelten als Abbild göttlicher Vorgaben und Ansprüche, denen sie zum einen zu entsprechen haben, deren Achtung und Beachtung sie zum anderen aber auch im Dienste des allgemeinen Wohls sicherstellen müssen. Seinen Höhepunkt erreicht dieser Gedanke im Hochmittelalter bei Thomas von Aquin, der bis heute als die wichtigste theologisch-philosophische Autorität des römischen Katholizismus gilt. Thomas unterscheidet zwischen lex aeterna (ewigem Gesetz), lex naturalis (natürlichem Gesetz) und lex humana (menschlichem Gesetz). Das Gesetz, das die transzendente, heile Wirklichkeit ordnet, ist in der Vernunft des Menschen als natürliches Gesetz abgebildet. Indem der Mensch dieses natürliche Gesetz in menschliche Gesetze, also auch in positives Recht überführt, trägt er bei zur Verwirklichung des Göttlichen im Weltwirklichen und damit zur Heilsannäherung der Welt. Das Heil von Einzelnen und Gemeinschaften wird auf diesem Weg abhängig von unbedingter Gesetzes- und Rechtstreue.
Zwischenbemerkung: Gesetzestreue ist hier also in gewissem Sinne der Gegenbegriff zur Sünde. Sündigen meint, dem repräsentativen menschlichen Gesetz im Denken und Handeln nicht zu entsprechen. Wer sündigt, denkt und handelt unvernünftig. Damit verstößt er zugleich gegen die lex aeterna, fällt aus ihrem Heil und schädigt so sich selbst und die Gemeinschaft.
Das reformatorische Denken wird auch geboren aus der nominalistischen Aufklärung, also unter anderem aus der Einsicht, dass in der Vernunft nichts ewig und allgemein Gültiges abgebildet ist, dass die Vernunft also auch nichts dergleichen umsetzen und realisieren kann. Das, was vom Göttlichen zugänglich ist, wird reduziert auf das, was als Geschaffenes sichtbar oder ins Geschaffene hinein offenbart ist, und dies wird weitgehend unterschieden vom eigentlichen Wesen des Göttlichen. Damit verringert sich der transzendente Druck, zugleich verflüchtigen sich aber auch die großen Heilshoffnungen für die Weltwirklichkeit. Die göttlichen Gesetze, die nun entdeckt und formuliert werden, sind allein noch Gesetze der Immanenz und für die Immanenz. Und das, wozu sie in der Welt gegeben sind und was sie in der Welt erreichen sollen, hat nichts mehr zu tun mit dem Heil der transzendenten Wirklichkeit. Also: In einer im reformatorischen Denken sich tendenziell vergottlosenden Weltwirklichkeit dienen göttliche Gesetze und ihre Positivierung im Recht allein noch zur Sicherstellung relativer Ordnung und relativen Friedens. Göttliche und menschliche Gesetze verlieren ihren religiösen Zauber. Sie haben nun eher instrumentellen Charakter und sind dem Menschen zum innerweltlichen Gebrauch gegeben (usus legis). Dieser Gebrauch stiftet aber kein Heil mehr. Heil ist allein die transzendente Wirklichkeit, und die Verlagerung des Heils in die Transzendenz bringt den Menschen auf Distanz zu allem, was in der Weltwirklichkeit nicht zuletzt durch den Gebrauch des Gesetzes realisiert werden kann.
Es ist gerade diese Distanz, die in den nach-reformatorischen, modernen Säkularisierungen des Gesetzesbegriffs wieder verloren geht. Die Gesetze, die nun in den entstehenden und sich differenzierenden Wissenschaften formuliert oder entdeckt werden, mutieren nicht selten zu immanenten Ersatz-Transzendenzen. Sie verheißen eine permanente Optimierung der Weltwirklichkeit, versprechen Frieden, Wohlstand und Glück, sofern man sich ihnen unterwirft oder sie in geeigneter Weise zu nutzen versteht. Die alte christliche Gesetzesidee und die mit ihr gegebenen Heilshoffnungen kehren säkular gewendet zurück – und erweisen sich spätestens im 20. Jahrhundert als fatale Illusion. Höchste Zeit, mit Paulus daran zu erinnern, dass die Sünde, begriffen als Transzendenzdefizit, nicht unser Problem ist, und dass das Gesetz, begriffen als Transzendenzanspruch, keine Lösung bereithält. Das Gesetz ist vielmehr Teil unseres tatsächlichen Problems.
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