Damit ist zunächst gesagt: Der Glaubende verfügt nicht über eine für das Göttliche empfängliche Wahrnehmung. Er hat keinen siebten Sinn oder eine erweiterte Vernunft. Ihm wohnt auch kein personaler göttlicher Geist inne, der ihm bei Denken und Leben behilflich wäre. Der Glaube schafft im Glaubenden keine neue Wirklichkeit. Das bedeutet auch: An der Natur des Glaubenden ändert sich nichts. An ihm und in ihm ereignet sich keine göttliche Transformation. Paulinischer Glaube vergöttlicht den Menschen nicht, noch nicht einmal analogisch, noch nicht einmal potenziell. Alle Vorstellungen von Transformation und Vergöttlichung des Menschen, die im Christentum um die Begriffe Bekehrung und Wiedergeburt herumwuchern, sind religiöse Illusion – ganz egal, ob sakramentale Vermittlungen, göttliche Gnaden- oder menschliche Willensakte vorausgesetzt werden. Immer wird hier in gnostischer Tradition eine Absonderung und Auszeichnung des Menschen versprochen, die sich als gefährlich erweist: Der Mensch ist geneigt, in sich auf etwas „Wirkliches“ zu hören, das „Reden“ seiner Vernunft, seiner Sinnlichkeit oder seiner Leiblichkeit als göttliches Reden zu interpretieren. Zugleich ist ihm nahegelegt, auf eine mögliche Perfektionierung oder tatsächliche Vollkommenheit seiner selbst zu setzen. Manche scheitern und verzweifeln daran, andere verwechseln sich selbst schwärmerisch mit Gott und erheben sich über den Rest der Menschheit. So oder so wird in der Idee einer qualitativen Veränderung des Menschen durch Glauben gerade das aufgegeben, worauf paulinischer Glaube hinaus will: die kritische Distanz des Sünders zu seinem Selbst und seine wachsame Unabhängigkeit von dessen Mechanismen.
Auch die Welt ändert sich nicht im paulinischen Glauben. Der religiöse Glaube des Christentums interpretiert die Welt als wesentlich göttlich oder zumindest als Schöpfung. Der paulinische Glaube dagegen hält die Welt für wesentlich und unveränderlich gottlos. Die Weltwirklichkeit kann noch nicht einmal als Schöpfung begriffen werden (auch wenn Paulus selbst sie noch als solche bezeichnet), weil sie Sünde und damit dem Werden des Vergehens unterworfen ist (Röm 8,20). Es ist weder so, dass die Welt früher göttlicher war und nun glaubend korrigiert werden müsste. Noch ist es so, dass die Welt auf Vergöttlichung ausgelegt und nun glaubend zu transformieren wäre. Beides gilt noch nicht einmal bloß als ob. Eine vergangene oder künftige Gotteswirklichkeit im Weltwirklichen dient dem paulinischen Glauben noch nicht einmal als regulative Idee oder Fiktion. Paulinischer Glaube verzichtet endgültig auf den Gedanken einer göttlicheren, besseren, heileren Welt. Damit ist der Sprung, den Paulus zumutet, deutlich radikaler, als der Sprung Kierkegaards. Kierkegaard ist noch ganz christlich, insofern er den Glauben als innerwirklich absolutes Paradox konzipiert: Der Glaube ergreift, ohne zu sehen, eine kommende sichtbare Weltwirklichkeit als gewiss. Das paulinische Paradox ist ein anderes: Der Glaube hängt sich an eine außerwirkliche Wirklichkeit, die nicht vernehmbar ist und nie weltwirklich vernehmbar sein wird. In dieser Wirklichkeit glaubend existierend interpretiert der Glaubende jede vernehmbare Wirklichkeit als ob nicht – als ob sie ungültig wäre. Allein in dieser Interpretation ist das überwunden, was gerade das Christentum in besonderer Weise provoziert: Die Wirklichkeitsabhängigkeit des Glaubens und des Glaubenden, die ermüdende Abhängigkeit von einer allmählich zu heilenden und die überspannte, auf Dauer unerträgliche Abhängigkeit von einer gnadenpositivistisch geheilten Weltwirklichkeit. Allein das paulinische als ob nicht befähigt dazu, immer wieder kritische Distanz zu gewinnen zu jeder beliebigen Weltwirklichkeit und in ihr im besten Sinne gegenwärtig zu sein – egal, ob sie schmerzlich oder erfreulich ist, ob sie zur Flucht oder zum Verweilen reizt.
Dass der Glaube die Wirklichkeit des Selbst und der Welt nicht verändert, dass er auch gar nicht auf deren Veränderung aus sein darf, wenn er tatsächlich wirklichkeitsmächtig werden soll, ist bereits in Luthers iustus et peccator angedeutet: Tatsächlich ist und bleibt der Mensch Sünder. Im Glauben aber darf er sich als gerechtfertigt begreifen, er darf sich also so interpretieren, als ob er nicht Sünder wäre. Ich selbst halte es für notwendig, Luthers Intuition von der Rechtfertigungslogik zu lösen und zu erweitern. Dann ließe sich das iustus et peccator vielleicht so fassen: Der Mensch ist peccator et adnullatus, Sünder und verungültigt zugleich. Die Weltwirklichkeit ist peccatum et adnullatus, Sünde und verungültigt zugleich. Ungültig sind Mensch und Welt aber allein im Glauben, allein im gewagten Hoffen, nicht im Schauen (Röm 8,24), allein in der Interpretation von Existenz und Sein als ob nicht. Wer mehr will, geht der Sünde geradewegs in die Falle und bleibt in ihren Mechanismen gefangen – nun sogar religiös gerechtfertigt.
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