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Mittwoch, 8. Juni 2016

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Große religiöse oder metaphysische Erzählungen, repräsentative Systeme des Denkens und Handelns sind letztlich unhaltbar und sogar gefährlich.

Die allgemeinen Wahrheiten und Normen, die allgemeinen Sinn- und Ordnungsstiftungen großer Erzählungen können den sicheren Grund, den sie annehmen, nicht auf Dauer überzeugend behaupten. Allgemeine Gültigkeiten verändern sich, müssen angepasst werden, während wir sie zu entdecken, zu entwickeln und anzuwenden versuchen. Die Wirklichkeit windet sich gewissermaßen immer wieder aufs Neue aus der Erfassbarkeit und Beherrschbarkeit durch Allgemeinheiten heraus. Insofern sind alle Wahrheiten und Normen großer Erzählungen immer bloß vorläufige Wahrheiten und Normen als ob, deren Überzeugungs- und Bindungskraft fragwürdig und flüchtig ist.
Besonders problematisch ist, dass repräsentative Allgemeinheiten nie gegenwärtig sein können. Über jede konkrete Wirklichkeit hier und jetzt wird eine nicht konkrete allgemeine Wahrheit oder Norm gelegt. Repräsentative Allgemeinheiten sind damit der konkreten Wirklichkeit zum einen nie angemessen, zum anderen reißen sie die Wirklichkeit permanent hinter sich her, fordern von ihr unablässig die Anpassung an allgemeine Gültigkeiten. Es lässt sich durchaus sagen: Große Erzählungen und ihre Repräsentationen sind Flucht vor der konkreten Wirklichkeit, zugleich aber wesentliche Mitursache für deren Beschleunigung und Eskalation (eine Einsicht, die in der paulinischen Verhältnisbestimmung von Gesetz und Sünde vorformuliert ist).
Das Zeitalter großer Erzählungen geht zu Ende, liegt hinter uns und muss mit guten Gründen auch dort liegen bleiben. In den vergangenen Jahrzehnten sind daher, im Kontext „nachmetaphysischen Denkens“ (Jürgen Habermas), zahlreiche Versuche unternommen worden, Interpretation und Praxis des Einzelnen und politischer Gemeinschaften unabhängig zu machen von großen Erzählungen. Auf die Behauptung allgemeiner Gültigkeiten wird dabei verzichtet, eine allgemeine Erklärung von Gültigkeiten, ihre Qualifizierung und Hierarchisierung ist grundsätzlich nicht mehr möglich. Was nun (unter Gültigkeits- und damit zugleich unter Repräsentationsbedingungen) also gelingen muss, ist nicht mehr die Gleichschaltung von Interpretation und Praxis durch Allgemeinheiten, sondern die Anerkennung und Moderation der Gleich-Gültigkeit einer Pluralität von Interpretationen und Praktiken.
Die entsprechenden Vorschläge ausführlich zu diskutieren, ist hier nicht der Ort. Ganz allgemein habe ich jedoch den Eindruck, dass die nachmetaphysischen Entwürfe die Selbstmächtigkeit des einzelnen Menschen über- und die Eigenmacht der Weltwirklichkeit unterschätzen. Die in anthropologischer Hinsicht durchaus richtige Intuition großer Erzählungen ist ja die: Im chaotischen Strom der Wirklichkeitsgeschehnisse, im Streit der Weltgötter, der zahllosen Gültigkeiten der Weltwirklichkeit, ist es Menschen und Gemeinschaften dienlich, sich im Denken und Handeln an irgendetwas festmachen zu können. Dieses Etwas muss Denken und Handeln irgendwie entlasten, es muss aber Denken und Handeln auch irgendwie verbinden, irgendwie zusammenhalten. Streng genommen kann nachreligiöses und nachmetaphysisches Denken dieses Etwas nicht mehr anbieten. Damit ist eine Leerstelle aufgerissen, die sich kaum offen halten lässt. Davon zeugt unsere große säkulare Erzählung von Menschenwürde und Menschenrecht. Davon zeugt unsere große säkulare Erzählung gemeinsamer Werte. Und davon zeugt nicht zuletzt das gegenwärtig wieder erneuerte Interesse des (politischen) Denkens an Religion – der Versuch, auf Interpretations- und Praxisressourcen zurückzugreifen, die eine „entgleisende Modernisierung“ (Habermas) zu verhindern vermögen.
Aus meiner Sicht gilt es Abschied zu nehmen: von den großen Erzählungen der Religion und der Metaphysik, zugleich aber auch von der Annahme, wir könnten tatsächlich auf das verzichten, was uns Religion und Metaphysik geboten haben (oder was wir uns mit ihnen verschafft haben). Wir müssen uns verabschieden von allgemeinen Gültigkeiten und ihren Repräsentationen, wir müssen uns aber auch verabschieden von der Illusion, die Gleich-Gültigkeit von Gültigkeiten und Repräsentationen ließe sich tatsächlich moderieren und stabilisieren. In dieser Lage sehe ich nur einen Ausweg: die Überwindung von repräsentativem Gültigkeitsdenken und -handeln überhaupt durch reservatives Ungültigkeitsdenken und -handeln, das in einer Theologie der Ungültigkeit gegründet ist.

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