Im Freiraum des Willens zur Macht werden Denken und Handeln frei von der Inanspruchnahme durch weltwirkliche Gültigkeiten, vor allem frei von der Inanspruchnahme durch dominant oder gar absolut auftretende Gültigkeiten. Denken und Handeln hängen sich an nichts Wirkliches mehr. Nichts, was wirklich ist, wird ihnen zum Gott. Nichts Wirkliches kann unbedingte Ansprüche anmelden, nichts kann Letztgültigkeit beanspruchen. Denken und Handeln müssen damit keiner Anspruchslogik oder -mechanik mehr folgen, die irgendeine weltwirkliche Gültigkeit in Bewegung setzt.
Reservativ wollend tritt der Einzelne zunächst sich selbst gegenüber. Zunächst hält er sich selbst gegenüber inne, seiner Vernünftigkeit, seiner Sinnlichkeit, seiner Leiblichkeit. Antriebe seiner Vernunft, seiner Sinne und seines Leibes können ihm keine Befehle mehr erteilen, er muss ihnen nicht mehr gehorchen. Gleiches darf er im Gegenüber zu Vernünftigkeit, Sinnlichkeit und Leiblichkeit anderer Menschen, gleiches darf er im Gegenüber zu Geschehnissen und Erscheinungen überhaupt annehmen. Die mit anderen Menschen, mit Geschehnissen und Erscheinungen auftretenden Geltungsansprüche herrschen und binden nicht mehr. Auch vor ihnen darf der Einzelne reservativ innehalten.
Die im Willen zur Macht sich vollziehende universale Zurückweisung aller weltwirklichen Geltungsansprüche äußert und konkretisiert sich damit in einem Pluralismus der Ungültigkeiten. Jeder Einzelne ist anders, jeder Andere ist anders, jeder Kontext ist anders, jedes Geschehen und Erscheinen ist anders. Das jeweils Andere gilt es nun, im Unterschied zu einem Pluralismus der Gültigkeiten, gerade nicht mehr zu vergültigen, stark zu machen, als Anspruch zu formulieren und durchzusetzen. Das jeweils Andere darf vielmehr reservativ denkend und handelnd verungültig werden. Das meint: Jeder Einzelne ist auf seine je eigene Weise mit Struktur und Funktionsweise der Weltwirklichkeit als Sünde konfrontiert. Jeder Einzelne konfrontiert die Sünde auf seine je eigene Weise mit dem unbedingten Willen zur Macht. Jeder Einzelne wird damit auf seine je eigene Weise der Sünde ungehorsam und hält inne.
Nachbemerkung: Blickt man allein auf die Idee, so ist die moderne Großerzählung von Menschenwürde und Menschenrecht zweifellos eine beeindruckende Erfindung. Über die Wirklichkeit gelegt und in der Wirklichkeit realisiert treibt diese Erzählung jedoch hinein in eine unbedingte Vergültigung des jeweils Wirklichen, in einen prinzipiell konfrontativ angelegten Pluralismus der Gültigkeiten. Dieser Pluralismus wird konkret im ausufernden und eskalierenden Widerstreit von Durchsetzung und Anerkennung gleich-gültiger Ansprüche, der sich irgendwann durch keine Form, durch kein Recht, durch keine Institution, durch kein Verfahren mehr moderieren und bändigen lassen wird.
Der reservative Wille zur Macht lässt den Pluralismus der Gültigkeiten und die damit konstituierte Beschleunigungskultur der Selbstbehauptung hinter sich. Sein Pluralismus der Ungültigkeiten stiftet eine entbindende und entlastende Atmosphäre des Innehaltens, der Stille im Sturm der Gültigkeiten und Ansprüche. In dieser Atmosphäre wird es möglich, sich von weltwirklichen Ansprüchen nicht mehr gebrauchen zu lassen, sondern diese vielmehr zu gebrauchen.
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