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Montag, 10. Oktober 2016

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Ein weiterer Bestimmungsversuch: Repräsentativ nenne ich eine Interpretation der Wirklichkeit, die von der Gültigkeit dessen ausgeht, was ihre Begriffe, Gleichnisse, Bilder oder Symbole wiedergeben oder ergreifen wollen. Praxis dieser Interpretation meint den Versuch der Repräsentation im Sinne einer praktischen Vergültigung des als gültig angenommen. Repräsentative Praxis zielt auf Herstellung von Identität zwischen Gültigkeitsannahme und Wirklichkeit.

Reservativ nenne ich eine Interpretation von Wirklichkeit, die von der Ungültigkeit als ob nicht dessen ausgeht, was ihre Begriffe, Gleichnisse, Bilder oder Symbole bezeichnen, die sogar ihre Begriffe, Gleichnisse, Bilder oder Symbole selbst als ungültig annimmt. Praxis dieser Interpretation meint den Versuch der Reservation im Sinne einer praktischen Verungültigung dessen, was als gültig auftritt. Dabei zielt reservative Praxis nicht auf Abstinenz oder gar Askese, also auf durch Disziplinierung herzustellende und zu wahrende Nicht-Identität (das wäre nichts anderes als negative Repräsentation). Reservative Praxis ist vielmehr ein unausgesetztes aktives Innehalten (Freiheit) gegenüber allen Gültigkeiten zum Zwecke ihres Gebrauchs.

Anmerkung: Repräsentativ ist auch jene Interpretation und Praxis, die so etwas wie einen eschatologischen Vorbehalt kennt, die also eine bleibende Lücke voraussetzt zwischen Gültigkeitsannahme und Wirklichkeit, eine Lücke der Nicht-Identität, die nicht durch Praxis geschlossen werden kann. Eschatologische Vorbehalte stehen dafür, dass Identität „nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung“ (Kant) realisiert werden kann. Damit ist, die Erwartungen dämpfend, auf die Unverfügbarkeit von Identität verwiesen. Damit ist jedoch nicht der enorme Vergültigungsdruck der Repräsentationen überwunden.

Reservation als Begriff will auf ein mögliches Jenseits der Repräsentationen verweisen. Ob dieser Begriff gut gewählt ist, wird sich zeigen müssen. Zunächst erscheint er doch etwas hölzern und sperrig. Auch lädt er zu abschätzigen Wortspielen mit dem Begriff des Präservativs geradezu ein.
Aber vielleicht eignet sich Reservation als Begriff zumindest für einen abstrakten Diskurs zur Überwindung repräsentativer Interpretation und Praxis. Und dabei kann sogar von dem Bild des Präservativs Gebrauch gemacht werden: So lässt sich das Präservativ ja durchaus als Symbol eines als ob nicht des Geschlechtsaktes deuten. Es dämpft die unmittelbare Betroffenheit durch die Weltwirklichkeit und stellt sicher, dass die Wirklichkeit nicht ihre natürliche Rationalität entfalten kann, dass Ursache und Wirkung nicht ihren erwartbaren Lauf nehmen können. Zumindest Ähnliches leistet Reservation.

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