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Donnerstag, 16. Juni 2016

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Intuitiv können Ungültigkeitsglaube und das darin gewagte als ob nicht dazu verleiten, die Weltwirklichkeit für belanglos zu halten. Diese Annahme kann sich unterschiedlich Ausdruck verschaffen: hedonistisch, fatalistisch, lethargisch, apathisch, phlegmatisch, quietistisch, mystisch, monastisch, asketisch. Der so oder so vollzogene Rückzug aus der Weltwirklichkeit als Aufgabe kann sich zur Todessehnsucht steigern, zum letztlich nicht mehr zurückzuweisenden Wunsch, die nichtige Scheinwelt des Todes endlich hinter sich zu lassen, sich ihr nicht mehr stellen zu müssen und in einer Gotteswirklichkeit des Lebens sein zu dürfen – vergleichbar dem Wunsch nach Erlösung, der den Jungen Michael Karl Popper in der Kid’s Story der Animatrix in den (scheinbaren) Suizid treibt.

Die Anschauung der Weltwirklichkeit als belanglos wäre jedoch eine verhängnisvoll oberflächliche Interpretation von Ungültigkeit und als ob nicht. Das reservativ begriffene als ob nicht meint gerade das Gegenteil: Nichts ist im als ob nicht mehr von Belang, als allein noch die Weltwirklichkeit im Werden ihres Vergehens. Das ist das vielleicht alles entscheidende paulinische Paradox: Jede Wirklichkeitsinterpretation und -praxis, die dem durchaus verständlichen Erlösungswunsch nach- und den reservativen Kampf mit den Geltungsansprüchen der Weltwirklichkeit aufgibt, folgt selbst wiederum den Strukturen und Mechanismen der Welt. Jeder Versuch, vor der Welt, vor sich selbst, vor anderen, vor Geschehnissen und Erscheinungen als reservativer Aufgabe zu fliehen, ist so gesehen Sünde – also gerade das, wovon das als ob nicht zu befreien anbietet.

Zwischenbemerkung: Das gilt übrigens auch für alle christlichen und säkularen Weltverbesserungs- oder gar Weltheilungsversuche. Auch jede Weltbesserung flieht vor der Welt und verfällt ihr damit zugleich.

Bei Paulus (Phil 1,21–24) findet sich eine hilfreiche Andeutung, inwiefern das als ob nicht des Ungültigkeitsglaubens zu einer bedingungslosen Wirklichkeitszuwendung befreit: „Denn Messias ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn. Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen. Und so weiß ich nicht, was ich wählen soll. Denn es setzt mir beides hart zu: Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Messias zu sein, was auch viel besser wäre. Aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen.“ Das meint: Zweifellos lockt die Gotteswirklichkeit. Doch das als ob nicht (im Unterschied zum nicht) befreit nicht allein vom Streben nach Jenseitigkeit, es befreit zugleich zum reservativen Dienst in und an der Weltwirklichkeit, zu einem Dienst, der reservative Früchte hervorbringt. Kurz: Der reservative Gottesdienst des als ob nicht ist unbedingter Wirklichkeitsdienst. So herausfordernd ist es, im Werden des Vergehens der Welt im jeweiligen Ruf denkend und handelnd auszuharren (1 Kor 7,20).

Nachbemerkung: Es kann fatale Folgen für Denken und Handeln haben, wenn regelmäßige Zusammenkünfte von Glaubenden an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten als Gottesdienst bezeichnet werden. Gottesdienst erscheint dann leicht als etwas, das sich in einem von der Weltwirklichkeit abgesonderten Raum vollzieht, als (Zu-) Flucht vor der Welt. Gottesdienst im reservativen Sinne ist jedoch der alltäglich für die Weltwirklichkeit aufgenommene Verungültigungskampf mit weltwirklichen Geltungsansprüchen. Der (gemeinschaftliche) Rückzug in bestimmte Zeiten und Orte ist dann allein noch unserer eigenen Bedürftigkeit nach Ruhe geschuldet und kann allein noch als (gemeinschaftliche) Erinnerung und Vergewisserung geglaubter Freiheit, also gewissermaßen als Zubereitung zum Gottesdienst begriffen werden.

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