1) Die Weltwirklichkeit ist kein geordneter Kosmos. Sie ist ein neben-, in- und gegeneinander von unüberschaubaren und unkalkulierbaren Ereignis- und Funktionszusammenhängen, ein „ungeheurer chaotischer Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt“ (Max Weber).
2) Der Mensch ist kein Wesen, das über den Strom der Geschehnisse gestellt wäre oder das sich in Freiheit über die Weltwirklichkeit erheben könnte. Der Mensch ist vielmehr mit Vernunft, Sinnlichkeit und Leiblichkeit restlos und ununterscheidbar in das Chaos der Ursache-Wirkungs-Mechanismen der Welt integriert.
3) In der Weltwirklichkeit wird das vermeintlich Göttliche, zuletzt auch ein schaffender und erhaltender Gott als möglicher Stifter von Ordnung oder gar Harmonie, immer unsichtbarer. Für das, was wir uns in der üblichen Annahme einer Gültigkeitsbeziehung zwischen Transzendenz und Immanenz unter Gott oder dem Göttlichen vorstellen, bleibt in der Weltwirklichkeit kein Raum mehr.
4) Die Unsichtbarkeit eines Gültigkeitsgottes nötigt den Menschen zu dem, was der Philosoph Hans Blumenberg „Selbstbehauptung“ nennt. Der Mensch muss sich auf die Wirklichkeit als das ihm Verfügbare beschränken, muss ihre Funktionszusammenhänge zu ermitteln, in allgemeine Gesetze zu fassen und diese dann zu nutzen versuchen. Das ist das große Projekt der Neuzeit, insbesondere der säkularen Moderne. Dieses Projekt setzt den Menschen notgedrungen, oft auch übermütig an die Stelle des unsichtbaren Gottes. Es ist nun der Mensch, der Ordnung ins Chaos bringen, der der kontingenten Weltwirklichkeit Verlässlichkeit und Zukunft abtrotzen soll.
5) Das Projekt der Moderne und die daran gehängten Hoffnungen müssen jedoch scheitern. Gesetze erwecken den Eindruck, als ließe sich durch ihre Nutzung Macht gewinnen über die Weltwirklichkeit und den Lauf der Dinge. Doch alle Gesetze lassen sich auf vielfältige Weise nutzen – auf vermeintlich förderliche Weise, aber auch auf vermeintlich schädliche Weise. Dabei hat jede Nutzung von Gesetzen nicht nur unerwartete, sondern auch ungewollte Nebenfolgen, und die Nutzung des einen Gesetzes stört die Nutzung des anderen Gesetzes oder widerspricht ihr sogar. Ein übergeordnetes Gesetz, das die Nutzung aller Gesetze koordinieren oder gar harmonisieren könnte, ist nicht gegeben. Bisweilen wird religiösen oder moralischen Gesetzen diese Fähigkeit zugeschrieben. Doch der Versuch, die Nutzung von Gesetzen normativ zu richten, gleicht dem Versuch, mit bloßen Händen aus Wasser eine Kugel zu formen.
6) Der chaotische Strom der Wirklichkeitsgeschehnisse lässt sich, wenn überhaupt, nur scheinbar und vorläufig bändigen und lenken. Und während der Mensch zu bändigen und zu lenken versucht, erzeugt er selbst neue Wirklichkeiten, die ihn mit sich fortreißen und ihn unmittelbar dazu nötigen, neue Gesetze ausfindig zu machen. Das Kräftemessen zwischen Eigenmacht der Wirklichkeit und menschlicher Machtergreifung durch Gesetz hat ein unvermeidliches Ziel. Das Ende des Stroms der Wirklichkeitsgeschehnisse lässt sich nicht abwenden: der Tod. Nicht allein das Leben in der Weltwirklichkeit ist endlich. Die Welt selbst geht ihrem Tod entgegen.
Der „Sünde Sold ist der Tod“ (Röm 6,23). Alles, was die Weltwirklichkeit zuletzt zu bieten hat, ist der Tod. Daher kehrt Paulus die übliche Wirklichkeitsinterpretation radikal um. Er begreift das Leben in der Weltwirklichkeit und die Welt selbst schon jetzt als Tod. Wirklichkeit und Mensch können schon jetzt als tot interpretiert werden. Der Strom der Wirklichkeitsgeschehnisse ist der Strom des Todes. Wie aber nun als Toter im Toten leben?
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