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Montag, 7. März 2016

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Der Zugang zum paulinischen Messianismus ist uns durch verschiedene Umstände erschwert.

Zunächst sind dies Umstände, die bei Paulus selbst liegen. Paulus war noch ganz eingebettet in die Interpretationen des religiösen Zeitalters. So konnte er etwa bestimmte Erfahrungen oder Wahrnehmungen als göttliche Mitteilungen deuten, die wir heute als psychische oder psychosomatische Prozesse begreifen müssen. Das führt die Religiösen unserer Tage in die Irre, die religiös Unmusikalischen (Max Weber) dagegen kann es bloß irritieren.
Paulus war selbst ein Suchender. "Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Jesus Messias ergriffen bin" (Phil 3,12). Paulinische Texte sind als tastende, wenngleich sehr mutige und bestimmte Annäherungen an das messianische Ereignis zu lesen - nicht als etwas Vollkommenes und Endgültiges.
Paulus formuliert gerade auch den messianischen Kern seines Denkens "menschlich" - um der "Schwachheit" seiner Leser willen (Röm 6,19). Er gebraucht also Bilder, auf die er selbst verzichten könnte, die er selbst vielleicht sogar für problematisch und nicht wirklich treffend hält. Mit diesen Bildern müssen wir besonders vorsichtig umgehen.
Paulus war in gewissem Sinne ein Pragmatiker. Er konnte allen alles werden (1 Kor 9,22) - nur, um sie für seine Interpretation der messianischen Siegesnachricht zu gewinnen. Umso aufmerksamer müssen wir seine Texte lesen: Wem ist Paulus hier was geworden? Und was will er eigentlich erreichen? Welche messianische Absicht liegt hinter dem Schein der Worte?
Schließlich zieht Paulus in seinem eigenen Kontext Konsequenzen aus der messianischen Freiheit, aus dem als ob nicht der Weltwirklichkeit. Diese Konsequenzen gehen nicht selten an unserem heutigen Kontext vorbei. Wir haben unsere eigene Freiheit zu gewinnen - und Paulus würde genau das von uns fordern.

Der Weg zu Paulus ist zudem verstellt durch seine Verchristlichung und deren Wendungen in der Geschichte. In Deutschland ist das Paulusbild seit dem 16. Jahrhundert allzu sehr auf das lutherische Rechtfertigungsdogma fixiert - was die (nicht weniger fragwürdige) New Perspective on Paul im anglo-amerikanischen Raum seit einigen Jahrzehnten aufzubrechen versucht. Weitaus schwerer wiegt jedoch die grundsätzliche Vereinnahmung paulinischen Denkens durch das werdende Großchristentum zwischen dem 2. und 5. Jahrhundert. Der später als Häretiker geltende Kaufmann Marcion hatte schon zu Beginn des 2. Jahrhunderts den Verdacht, das wahre paulinische Evangelium sei mittlerweile jüdisch verformt und müsse rekonstruiert werden. Marcion war der erste, der so etwas wie ein christliches Neues Testament zusammenzustellen versucht hat - vor allem bestehend aus kritisch bereinigten Paulustexten. Marcion wurde damit Begründer einer überaus einflussreichen frühchristlichen Strömung. Vor allem auch im Gegensatz zu dieser stark gnostisch geprägten Bewegung definiert sich das spätere Großchristentum - und stützt sich dabei nicht zufällig gerade auch auf Paulus. Nicht zufällig sind paulinische und pseudo-paulinische Briefe im christlichen Kanon so zahlreich vertreten. Theologisch geht es den sogenannten Kirchenvätern darum, paulinisches Denken in die dogmatischen, ethischen und institutionellen Festlegungen des Großchristentums zu integrieren und sie damit auch gegen die gnostische Vereinnahmung abzusichern. Dieses Projekt meistern sie so erfolgreich, dass wir Paulus bis heute durch diese Festlegungen hindurch wahrnehmen.

Aber Paulus ist anders. Sein messianisches Denken ist nicht mehr jüdisch und noch nicht christlich. Es ist aber auch nicht gnostisch. Paulus ist von Beginn an ein Außenseiter, immer unter Häresieverdacht. Er ist der 13. Apostel, der Jesus selbst gar nicht kennen gelernt hat, der gar nicht mit ihm gezogen ist und daher eigentlich gar nicht mitreden kann. Er ist der Verfolger der ersten Jünger, und man traut ihm nicht. Nicht ohne Grund schickt man ihn auf Reisen. Und immer dann, wenn man sich mal wieder begegnet, gibt es Streit.

Paulus denkt anders. Und dieses andere Denken kann vielleicht gerade heute neu hilfreich werden.



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