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Freitag, 26. Februar 2016

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"Hallo Mädchen!" Heidi gibt mal wieder den emphatischen Drill Instructor. "Na, geht's euch gut? Seid Ihr happy? Du siehst so edgy aus! Machst Du, was ich von Dir will? Nein? Moment, ich muss kurz telefonieren - das Ticket für Deinen Heimflug buchen." Einfach Abschalten? Nein. Anschauen, nachdenken, Diagnose stellen. Wirklichkeit durchschaue ich nicht, indem ich wegschaue.

"Topmodel" als Phänomen ist ein aufschlussreiches Symptom. Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat in seiner Simulationstheorie zu zeigen versucht, dass sich in unserer Gegenwart die virtuelle Wirklichkeit von der tatsächlichen Wirklichkeit endgültig abzukoppeln beginnt. Beide Wirklichkeiten stehen nun weitgehend referenzlos nebeneinander. Kaum ein zweites Format im deutschen Fernsehen bestätigt die Theorie Baudrillards besser als "Topmodel". Die hier präsentierte Virtualität und die in ihr gespiegelte Virtualität der Modeszene hat nun wirklich (!) nichts mehr mit der tatsächlichen Wirklichkeit gemein.
Die von Baudrillard diagnostizierte Abkoppelung hat zumindest zwei dramatische Konsequenzen: Die virtuelle Wirklichkeit ergreift mit ihren Verheißungen Macht über uns und unterwirft uns ihrem gewalttätigen Diktat. Smombies nicht anders als Topmodel-Kandidatinnen. Zugleich macht uns die Jagd nach den referenzlosen Simulationen unfähig, die tatsächliche Wirklichkeit zu bewältigen, uns also einerseits reflexiv von ihr zu distanzieren, uns ihr andererseits aber auch in all ihrer Kontingenz mutig und verlässlich zu stellen. Kurz: Totale Funktionalisierung und Professionalisierung in der Virtualität, totale Verarmung und Verunfähigung in der Realität.
Von dieser doppelten Bewegung sind vor allem unsere persönlichen Beziehungen betroffen. Während sich unsere realen Beziehungen entleeren, funktioniert unser sogenanntes öffentliches Leben zunehmend im Topmodel-Modus - vom Leben der Kinder in Tagesstätten, Kindergärten und Schulen, über unsere unmittelbare Arbeitswelt bis hin zu den gesellschaftlichen und politischen Prozessen. Nicht zuletzt die aktuelle Flüchtlingsdebatte zeigt deutliche Züge der Baudrillard'schen Abkoppelung. Ihr jüngstes tragisches Opfer ist Heiko Maas: In der virtuellen öffentlichen Wirklichkeit macht er ausgerechnet als Justizminister mit höchst moralgeladenen Beschimpfungen auf sich aufmerksam. In der tatsächlichen Realität dagegen gelingt es ihm noch nicht einmal, eine einfache Nahbeziehung aufrecht zu erhalten. Psychoanalytisch könnte man hier eine Flucht in virtuelle Moralitäten vermuten. Aber das wäre eine Frage für die Couch.
An dieser Stelle stellt sich bloß die Frage: Wozu "Topmodel" anschauen? Um auf die totalitären Mechanismen aufmerksam zu werden, die sich in unserem modernen Leben verbergen und sich derzeit noch einmal auf eine ganz neue Weise enttarnen.



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