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Mittwoch, 13. April 2016

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Das frühe Christentum muss eine Antwort darauf geben, welche Relevanz es für eine offenbar doch nicht endende Weltwirklichkeit haben kann. Diese Antwort wird hineinformuliert in die sich verschärfende weltanschauliche und politische Krise der späten Antike. Sie soll die Christen nicht nur existenziell sichern, sondern ihnen zudem die Möglichkeit eröffnen, Geltung und Anerkennung zu finden. Das Christentum als Antwort beendet die Zeit des paulinischen Wartens. Der Messias wird zum Christus uminterpretiert, die Realisierung des Heils der Weltwirklichkeit wird nicht mehr bloß erhofft, sondern religiös-politisch angepackt.

Indem es sich in der Welt verortet und ansiedelt, fällt das Christentum zunächst dadurch hinter Paulus zurück, dass es die positive Gültigkeitsabhängigkeit zwischen Transzendenz und Immanenz erneuert. Das heißt, es werden göttliche Gültigkeitsvorgaben behauptet, die es in der Weltwirklichkeit zu realisieren gilt. Zugleich wird die Transzendenzrealiserung vom Gehorsam des Menschen abhängig gemacht. Der Mensch muss in einer bestimmten Weise denken, glauben, wollen, handeln, um der Transzendenz teilhaftig zu werden. Dies gilt nicht allein für die Gegenwart des Göttlichen im Weltwirklichen, sondern vor allem auch für die ewige Gemeinschaft mit dem Göttlichen in einer vollständig transzendierten Wirklichkeit.
Der Mensch wird dabei als Sünder begriffen, allerdings nicht mehr im paulinischen, sondern im religiös-moralischen Sinne. Von Natur aus gilt der Mensch dem Christen als religiös-moralisch geschwächt oder gar kraftlos, als gefangen in seinen Sünden. Von Natur aus kann der Mensch den religiös-moralischen Gültigkeitsvorgaben Gottes nicht entsprechen. Gegen diesen Mangel wird nun das Christusereignis aufgeboten. Kreuz und Auferstehung gelten als Wirklichkeitsereignisse, die die gestörte Verbindung zwischen Transzendenz und Immanenz heilen. Der Mensch wird von seinem Mangel erlöst und dazu befähigt, den göttlichen Forderungen zu entsprechen. Nur der christlich erlöste Mensch ist damit in die Lage versetzt, das Göttliche im Weltwirklichen zu realisieren und die Heilung der Welt voranzutreiben.
Die verschiedenen christlichen Traditionen bieten ganz unterschiedliche Interpretationen dafür an, wie das erlösende und heilende Christusereignis im einzelnen Menschen und in Gemeinschaften real und wirksam werden kann. Das römisch-katholische Christentum sieht noch eine starke Seins- und Existenzanalogie zwischen Göttlichem und Weltwirklichem, zwischen Gott und Mensch. Es findet daher in allen religiös-kulturellen Kontexten Anknüpfungsmöglichkeiten, besteht aber zugleich massiv auf einer repräsentativen, institutionell-personell-sakramentalen Vermittlung und Realisierung von Erlösung und Heil. Extra ecclesiam nulla salus. Außerhalb der Kirche ist kein Heil. Das protestantische Christentum ist Ausfluss der nominalistischen Erschütterungen im Hochmittelalter, muss daher in Wiederannäherung an Paulus eine deutliche Unterscheidung zwischen Gott und Welt, zwischen Schöpfer und Geschöpf vornehmen. Die Verbindung zwischen beiden lässt sich nun nicht mehr ohne weiteres auf natürlichem Wege herstellen. Auch die Möglichkeit der repräsentativ vermittelten Aussöhnung entfällt. Übrig bleibt die unverfügbare göttliche Begnadigung des Einzelnen, gewirkt durch die Verkündigung des göttlichen Wortes. Umstritten ist dabei, ob und welche Voraussetzungen im Menschen angelegt sind, damit Erlösung greifen kann, und welche Wirkungen im Menschen mit der Erlösung verbunden sind.
Römisch-katholische und protestantische Interpretationen unterscheiden sich auch darin, was die Realisierung des Göttlichen im Weltwirklichen meinen kann. Während das katholische Denken die Möglichkeit einer echten Gottesannäherung der Welt durch die Exekution göttlicher Ordnungen nahelegt, verlagert das protestantische Denken das Göttliche deutlich stärker in eine außerweltliche Transzendenz und versteht die göttlichen Anordnungen für die Welt eher als Gültigkeitsvorgaben zur Gestaltung der von Gott unterschiedenen Schöpfung – nicht als Ausdruck und Realisierung des göttlichen Wesens (man spricht von Schöpfungsordnungen, oder noch zurückhaltender von Erhaltungsordnungen).
Der Unterschiede ungeachtet geht es in beiden Erscheinungsformen des Christentums bis heute in einem ersten Schritt um heilende Vermittlung zwischen Transzendenz und Immanenz, in einem zweiten Schritt aber immer auch um Transzendenzrealisierung im Weltwirklichen. Dieses Schema erhält sich selbst in den Säkularisierungen der christlichen Religion – etwa bei Kant und Hegel. Das gilt es heute zu überwinden. Dabei ist aus paulinischer Perspektive nicht die Säkularisierung des Christentums das Problem, sondern das Christentum selbst mit seiner eigentümlichen Verhältnisbestimmung von Transzendenz und Immanenz. Um diese Bestimmung aufzubrechen, bedarf es nicht zuletzt einer Erneuerung und Aktualisierung des paulinischen Sündenbegriffs.

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