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Mittwoch, 4. Mai 2016

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Paulus lässt sich selbstverständlich auch christlich deuten. Wer ihn nachchristlich in Anspruch nehmen will, darf nicht zimperlich sein, muss über viele vermeintlich christliche Formulierungen rücksichtslos hinwegschreiten und erst einmal nur dort verharren, wo Paulus seine alles entscheidenden Uminterpretationen vornimmt. Von hier ausgehend lässt sich möglicherweise der vermeintlich christliche Paulus insgesamt nachchristlich wenden. Mein eigenes nachchristliches Denken verdankt sich vor allem zwei paulinischen Uminterpretationen.

Sünde meint bei Paulus Struktur und Funktionsweise von Weltwirklichkeit und menschlicher Existenz. Gültigkeiten (Gesetze) können die Sünde nicht disziplinieren oder gar heilen, sie können sie bloß bezeichnen und damit ermächtigen. Was durch Gültigkeiten ermächtigt wird, ist nicht das Leben, sondern der Mechanismus des Todes. In diesen Mechanismus ist der Mensch mit Vernunft, Sinnlichkeit und Leiblichkeit ganzheitlich und vollständig integriert. Alle rationalen, alle sinnlichen und alle leiblichen Mechanismen sind ausnahmslos Mechanismen des Todes.
Lassen sich diese Mechanismen durchbrechen, lässt sich ihre weltwirkliche Dynamik unterbrechen? Grundsätzlich: Nein. Der Tod treibt unaufhaltsam in den Tod (und das ist auch gut so). Im Prozess des unvermeidlichen Todes des Todes ist jedoch der Mensch als animal interpretans, als zur Interpretation genötigtes und fähiges Wesen dazu in der Lage, die Sünde so zu interpretieren, dass gewissermaßen punktuell wirklichkeitsrelevante Störungen der Sündenmechanik, Verschiebungen oder gar Stilllegungen des weit verzweigten Ursache-Wirkungs-Szenarios der Sünde möglich werden. Was sich dem Menschen mit dieser Annahme interpretierend eröffnet, kann man nicht vorsichtig und zurückhaltend genug formulieren, denn unmittelbar drängen sich die alten christlichen Fortschritts- und Heilsannahmen auf. Gerade diese aber gilt es mit Paulus abzuweisen.
Üblicherweise entwickelt der Mensch aus bestimmten Wirklichkeitsinterpretationen bestimmte Gültigkeitsannahmen und hängt daran seine Wirklichkeitsgestaltungsversuche. Paulinisch interpretiert bekräftigen und dynamisieren derartige Bemühungen allein die Macht der Sünde. Paulus selbst setzt daher auf eine Ungültigkeitsannahme: auf die Annahme der Ungültigkeit der Weltwirklichkeit. An zwei Stellen seiner Briefe führt er diese Neugründung des Denkens besonders eindrücklich vor.

In Röm 6,11 nimmt Paulus zunächst die Menschen als Existierende in den Blick und befiehlt ihnen geradezu: „Haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend im Messias“. Das Verb (logizomai), das Paulus hier verwendet, ist der erste Imperativ im Römerbrief. Es fordert zu einer notwendigen Schlussfolgerung auf, die dennoch als ein Wagnis erscheinen muss. Hier wird etwas als gewiss angenommen, dessen man nicht sicher ist. Zugleich wird in diesem Verb ein permanenter Selbsterinnerungsprozess angeordnet. Unaufhörlich soll der Folgernde und Annehmende darauf bedacht sein, sich dessen, was er annimmt, zu vergewissern und entsprechend zu existieren. Als gewiss annehmen soll der Mensch dies: Das, was als Leben erscheint, ist der Tod. Das aber, was als Tod erscheint, ist das Leben. Das Leben im Tod zu leben heißt, sich selbst so zu interpretieren, als sei man dem Tod gestorben, als sei man tot für den Tod. Das bedeutet zunächst und vor allem: Der Mensch soll sich so anschauen, als sei er tot für sich selbst.

Eine vergleichbar ungeheuerliche Uminterpretation verlangt Paulus in 1 Kor 7,29–31. Hier schaut er auf die Menschen in ihrem Verhältnis zu den Zuständen, Erscheinungen und Ereignissen in der Weltwirklichkeit. Er legt fest: „Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“ Die Wendung hōs mē (als ob nicht), die Paulus hier in unbeirrbarem Staccato wiederholt, ist wohl die „strengste Definition des messianischen Lebens“ (Giorgio Agamben). Mit keiner anderen Bestimmung macht Paulus so energisch darauf aufmerksam, worauf seine messianische Interpretation der Weltwirklichkeit hinausläuft: Was erscheint, soll interpretiert werden, als erschiene es nicht. Was sich ereignet, soll interpretiert werden, als ereignete es sich nicht. Die Weltwirklichkeit als das, „was der Fall ist“ (Ludwig Wittgenstein), soll begriffen werden, als sei sie nicht der Fall. Oder anders (Röm 6,11): Der Mensch soll die Weltwirklichkeit so anschauen, als sei er ihr gestorben.

Den paulinischen Versuch, Denken und Leben neu zu gründen, um der tödlichen Sündenmechanik nicht mehr schlicht folgen und dienen zu müssen, um ihr womöglich sogar punktuell Einhalt gebieten zu können, fasse ich selbst üblicherweise so: Der Mensch darf sich selbst und die Weltwirklichkeit als aufgehoben und überwunden begreifen.
Als aufgehoben verstehe ich Mensch und Weltwirklichkeit im doppelten Sinne: Sie können als abgeschafft, als annulliert, als nichtig und gleich-gültig gelten. Zugleich aber dürfen sie in ihrer Gleich-Gültigkeit als aufgesammelt und gut aufbewahrt verstanden werden. Aufhebung ist eine Interpretation des Kreuzes, die alle üblichen Transzendenzvorstellungen als Gültigkeitsvorstellungen verwirft und Mensch und Weltwirklichkeit von jedem religiösen oder metaphysischen Gültigkeitsdruck entlastet. Mit dieser Entlastung ist allerdings für Denken und Leben noch nicht viel gewonnen. Im Gegenteil. Es droht gerade das, was das Signum unserer Gegenwart zu werden scheint: Der gültigkeitslose Verfall an die pluralen Gültigkeiten der Weltwirklichkeit.
Der Aufhebungsinterpretation (Kreuz) muss daher die Überwindungsinterpretation (Auferstehung) zur Seite gestellt werden. Bedrohlich für die Sündenmechanik werden das paulinische logizomai und das hōs mē erst dann, wenn nicht allein das vermeintliche Leben als Tod, sondern auch der vermeintliche Tod als Leben interpretiert wird, wenn sich der Mensch also nicht bloß der Nichtigkeit überlässt, sondern sich im Tod als Leben neu beheimatet und verankert. Der vermeintliche Tod muss als Lebenswirklichkeit begriffen werden, die der Nichtigkeit des bloß vermeintlichen Lebens jede Gültigkeit und damit jede Macht nimmt. In der Lebenswirklichkeit des vermeintlichen Todes beheimatet und verankert, darf der Mensch sich selbst und die Weltwirklichkeit als überwunden interpretieren. Struktur und Funktionsweise von Weltwirklichkeit und menschlicher Existenz dürfen als bezwungen, als besiegt, als entmachtet, ja geradezu als unterworfen angeschaut werden. In dieser Anschauung erfährt die Gleich-Gültigkeit des Kreuzes ihre alles entscheidende Überholung: Die Gleich-Gültigkeit der Weltwirklichkeit wird überwunden in ihrer Gleich-Ungültigkeit. Die Macht der Sünde ist gebrochen.

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