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Dienstag, 19. Juli 2016

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Eine nach-säkulare, nun wieder integrative Interpretation von Wirklichkeit, die nicht zurückfällt in die repräsentative Mechanik von Religion und Metaphysik, die aber auch nicht die reformatorische Spaltung Gottes aufleben lässt, findet sich heute weniger im deutschen Denken - eher in der französischen und italienischen Philosophie, hier insbesondere in jenem philosophischen Paulinismus der vergangenen zwei Jahrzehnte, der sich im Milieu jüdischen Denkens nach Auschwitz zu entwickeln beginnt. Was diesen Paulinismus allerdings daran hindert, eine postsäkulare (politische) Perspektive zu öffnen, ist sein strikter Materialismus, dann aber auch sein innerwirklicher Messianismus, der Letztes ins Vorletzte hineinzuziehen versucht und damit auf kommende Weltwirklichkeiten setzt, die im Weltwirklichen nie wirklich werden.

Demgegenüber erscheint mir eine reservativ-integrative Interpretation als konsequent postsäkulare (politische) Alternative, die nicht nur über die säkulare Moderne, sondern auch über ihre (mögliche) materialistisch-messianische Pointierung hinausschreitet. Ungültigkeitsglaube und Reservation verstehe ich als postsäkulare Zuspitzung und Vollendung reformatorischer Interpretation und Praxis. Die (spätmittelalterliche) reformatorische Notsetzung eines nach Gesetz und Evangelium gespaltenen Gottes wird aufgegeben. Es werden nicht mehr Reiche und Regimente unterschieden, sondern Wirklichkeiten: hier die ganz andere Gotteswirklichkeit, die im Weltwirklichen nicht und niemals wirklich ist, dort die radikal vergottloste, damit endgültig entzauberte Weltwirklichkeit.
Mit dieser Unterscheidung ist zunächst jener Gott überwunden, dessen Wille sich im weltordnenden Gesetz äußert, dessen Gesetz Politik und politische Gemeinschaft stiftet. Mit dieser Unterscheidung ist zudem ein Ungültigkeitsverhältnis von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit angenommen (als ob). Es „gibt“ (als ob) allein noch einen einzigen göttlichen Willen: Aufhebung und Überwindung, Verungültigung der Weltwirklichkeit. Diese Annahme, dieser Glaube lässt sich reservativ politisieren. Anders gesagt: Reservativ interpretiert und praktiziert lassen sich mit dem Evangelium, mit dem einzig verbliebenen (unsichtbaren) Gott des Evangeliums Politik und politische Gemeinschaft stiften und stabilisieren. Dass eine Politik des Evangeliums dabei nicht in die Schwärmerei des linken Flügels der Reformation verfällt, sichert das als ob nicht. Ein reservativ interpretiertes Evangelium behauptet keine andere oder gar neue (göttliche) Weltwirklichkeit als Möglichkeit. Es behauptet vielmehr die gottlose Weltwirklichkeit als ob nicht. In dieser Behauptung ist kein Platz für Schwärmerei.
Politik und politische Gemeinschaft des als ob nicht wirklichkeitsrelevant zu entfalten – das ist die Chance, die sich in postsäkularer Zeit vielleicht erstmalig bietet.

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