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Mittwoch, 9. März 2016

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Alles Denken, alles Reflektieren ist der Versuch, sich in Raum und Zeit zu orientieren und möglichst zu befestigen.

Als vernünftige, also vernehmende und insofern interpretierende Wesen sind wir durch unsere Natur genötigt, die gegebenen Erscheinungen und Wahrnehmungen einzuordnen, sie zu sortieren und zu verstehen, sie zu durchschauen, dahinter zu blicken, ihnen auf den Grund zu gehen. Wie intensiv wir dieser Nötigung nachkommen und welche Denkwege wir dabei beschreiten, ist von vielen Vorgaben abhängig, die wir selbst nicht wählen können: von der natürlichen Konstitution des Einzelnen, von dem unmittelbar prägenden Kontext, in dem wir aufwachsen, vor allem aber auch von den kulturellen Rahmenbedingungen – also von den vorgegebenen Selbstverständlichkeiten des Interpretierens und Handelns, deren stille Normierungen gewissermaßen die Atmosphäre schaffen für unsere eigenen Befestigungs- und Orientierungsversuche.
Es gab und gibt Kulturen, in denen religiöse Wirklichkeitsinterpretationen und entsprechende Praktiken selbstverständlich waren und sind. Mit „religiös“ meine ich die Vorstellung einer hinter den Erscheinungen liegenden Wirklichkeit, von der die wahrgenommene Wirklichkeit irgendwie abhängt, von der aus sie erklärt werden und an der man sich also mehr oder weniger befestigen kann (religare: anbinden, rückbinden). Die Hinterwelt kann ganz unterschiedlich vorgestellt werden, die mögliche Verbindung zwischen Hinterwelt und wahrgenommener Welt ebenso. Damit die Wirklichkeit überhaupt religiös interpretiert werden kann, bedarf es bestimmter Rahmenbedingungen. Wenn diese brüchig werden, dann brechen auch religiöse Interpretationen und Praktiken auf. Sie müssen neu verhandelt, neue Selbstverständlichkeiten müssen gefunden werden.
Der entscheidende Umbruch in der Kulturentwicklung des Abendlandes, der eine religiöse Wirklichkeitsinterpretation zuletzt unmöglich gemacht hat, ereignet sich nicht etwa erst in der Zeit der Aufklärung, sondern bereits im späten Mittelalter, im Streit zwischen Universalienrealisten und Nominalisten. Hans Blumenberg hat in diesem Zusammenhang auf die besondere Rolle des Nominalisten Wilhelm von Ockham aufmerksam gemacht. Ockham kann u.a. zeigen, dass Begriffe und das von ihnen Bezeichnete nicht identisch sind und dass verschiedene Menschen gleiche Begriffe mit unterschiedlichen Inhalten füllen. Das hat erhebliche Auswirkungen auf Verständnis und Handhabung von Wirklichkeit, vor allem aber auch auf die Erschließung einer Hinterwelt und die mögliche Verankerung von Denken und Praxis. Das Göttliche wird dunkel und unfassbar, das Weltwirkliche wird zur selbstständigen Erschließung und Bearbeitung freigegeben.
Die Einsicht Ockhams und ihre Wirkungen kann man durchaus als höchst törichte Emanzipationsbewegung des Menschen deuten, die uns in ihrem Hochmut und in ihrer Selbstüberschätzung in Chaos und Untergang stürzen muss. Im politischen Denken ist es nicht zuletzt Eric Voegelin, der diese Deutung stark gemacht hat, und wenn man schlichte Religionskritiker der Gegenwart wie Richard Dawkins oder auch Michael Schmidt-Salomon beobachtet, dann spricht durchaus viel dafür, die Warnungen Voegelins noch einmal ernst zu nehmen. Blumenberg beobachtet jedoch eher diejenigen, die sich des unschätzbaren Verlustes bewusst sind, den der hochmittelalterliche Streit hinterlässt – und das sind zweifellos die deutlich besseren Denker. Ihnen bleibt nach dem Verlust der transzendenten Rückbindungsmöglichkeit nichts anderes übrig, als sich neue, nun zunehmend immanente Wirklichkeitsinterpretationen zu erschließen und diese dann als mögliche Praxis zu formulieren. Blumenberg spricht hier von der Notwendigkeit der „Selbstbehauptung“ des Menschen und versteht diesen Prozess durchaus als verzweifelte, aber unvermeidliche Suche. Kaum ein anderer beschreibt die Tragik dieser Suche besser, als der tolle Mensch Nietzsches, der halb wahnsinnig den Tod Gottes und seine Folgen beklagt: „Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“
Nun kennt die abendländische Neuzeit aber nicht allein den Versuch der Selbstbehauptung, sondern auch immer wieder neue Anläufe der Gottesbehauptung unter veränderten Interpretations- und Lebensbedingungen – im brennenden Bewusstsein, dass die ungebundene Selbstbehauptung des Menschen zuletzt scheitern muss. Diese Gottesbehauptungen nehmen den Prozess der zunehmenden Verweltlichung der Welt ernst, tragen selbst zur weiteren Verweltlichung der Welt bei, suchen aber zugleich nach einer veränderten Gottes- und Weltinterpretation, die in Raum und Zeit noch Halt und Hilfe bieten kann. Schon Ockham selbst versucht eine neue Gottesbehauptung, die das spätere reformatorische Denken entscheidend vorbereitet. Die Reformatoren können allein noch den in der Schrift sich offenbarenden Gott behaupten. Nicht zuletzt die konsequente Vorsehungslehre Calvins lässt jedoch zweifelhaft erscheinen, inwiefern selbst dieser Gott überhaupt noch relevant sein kann. Ein Gott, der selbst den Flug der Schwalbe lenkt, wird ununterscheidbar im Wirklichen – und so bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als zunehmend selbstständig zu werden. Die entsprechenden Philosophien liefern vor allem Kant und Hegel, doch auch diese lassen sich als erneuerte Gottesbehauptungen in säkularem Gewand lesen. Rudolf Bultmann, der große Entmythologisierer, nimmt das Ende des religiösen Zeitalters überaus ernst: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ Gerade deshalb aber sucht Bultmann nach einer Neuformulierung dessen, was nach dem Ende der Religion noch Glaube genannt werden kann, und es gibt kaum hilfreichere Überlegungen zur Vorbereitung eines neuen Glaubensbegriffs als jene, die Bultmann in seinem für Religiöse so gefährlichen Aufsatz „Neues Testament und Mythologie“ (1941) vorlegt.
Eben darum geht es mir selbst, oder besser – eben dazu sehe ich mich genötigt: Überzeugt davon, dass der unvermeidlich gewordene Selbstbehauptungsversuch des Menschen zuletzt scheitern muss (und gegenwärtig endgültig zu scheitern beginnt), suche ich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln nach einer veränderten Gottesbehauptung, die nicht mehr religiös ist, aber überzeugend und mächtig genug, um dem spät- und postmodernen Menschen Bindung und Orientierung zu geben.



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