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Sonntag, 20. März 2016

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Dass über Derridas Dekonstruktion hinausgedacht werden muss, gilt für mich als ausgemacht. Mit ihren Göttern und Ideen versuchen Religion und Metaphysik, das in der Vernunft Vernommene sinnstiftend zu erklären, ihm Anfang und Ziel, Grund und Verheißung zu geben. Auf die eine oder andere Weise vermitteln sie dabei zwischen verschiedenen Vorstellungen von Transzendenz und Immanenz. Irgendein Verhältnis zwischen „jenseits“ und „diesseits“, zwischen „oben“ und „unten“ soll den an sich chaotischen Erscheinungen der Weltwirklichkeit Struktur verleihen und der menschlichen Existenz Halt und Orientierung bieten. Diese Stabilisierungsversuche sind mit Derridas Dekonstruktion überwunden. Das stählerne Gehäuse der Weltwirklichkeit ist endgültig verschlossen, die einzig verbleibende Wirklichkeit ist entgöttert und damit sinnentleert.

Derrida radikalisiert den jüdischen Atheismus und Nihilismus. Dabei lässt sich seine Dekonstruktion als befreiendes und unhintergehbares Evangelium interpretieren: Alle weltwirklichen Götter sind Nichtse, aber auch alle religiösen und metaphysischen Götter, denn in ihnen werden die weltwirklichen Götter lediglich in mehr oder weniger abstrakter Form abgebildet. Dekonstruktion als messianisches Ereignis bricht die Macht jedes Gottes, den es „gibt“. Damit ist viel gewonnen, zugleich ist aber auch alles verloren, woran wir uns bislang festgehalten haben, was unserem Denken und Leben Herkunft und Zukunft gegeben hat. Es drohen totale Ohnmacht und Haltlosigkeit. Paulus formuliert: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf den Messias, so sind wir die elendesten unter allen Menschen“ (1 Kor 15,19). Das Kreuz ist bei Paulus insofern eine Gotteskraft (1 Kor 1,18), als dass alle wirklichen und überwirklichen Götter für tot erklärt und damit entmachtet werden. Wäre dies aber die einzige messianische Botschaft, so wären wir in die erschreckende Gültigkeit des Nichts gestürzt – mit dramatischen Folgen für Leben und Zusammenleben.
Das Evangelium der Dekonstruktion muss daher vervollständigt werden, allerdings durch eine Botschaft, die nicht hinter das Kreuz zurückfällt. Der Tod aller vernehmbaren Götter darf nicht aufgeweicht werden, sonst werden sie erneut mächtig. Es ist ausgerechnet das werdende katholische und ökumenische Großchristentum, das in seiner Konstruktionsphase durch die Vereinigung mit dem griechischen und römischen Denken die Gotteskraft des Kreuzes aufgibt. Dabei bringt es einen beeindruckend zählebigen Gedanken prozessual geneigter Gleichzeitigkeit hervor, der sich selbst in seinen neuzeitlichen Säkularisierungen bei Kant und Hegel noch findet: Gott ist beides zugleich – wirklich ein bisschen tot und wirklich ein bisschen lebendig, wobei behauptet wird, der wirklich lebendige Gott werde zuletzt den Sieg davon tragen. Egal, wie die Wirklichkeit also läuft – stets kann der eine mit dem anderen Gott entschuldigt werden, und stets gibt es Grund zur Hoffnung.
Auch dieser alte theologische Trick des Christentums ist mit Derrida endgültig als solcher aufgedeckt und unmöglich geworden. Eine neue Gottesinterpretation jenseits der Dekonstruktion kann bloß noch einen radikal unsichtbaren Gott behaupten. Dessen Wirklichkeitsrelevanz lässt sich aber nicht mehr durch die alten religiösen und metaphysischen Sprachspiele absichern.

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