Seiten

Samstag, 12. März 2016

26

Zwischen Luther und Calvin brechen die Epochen. Für Luther ist die Weltwirklichkeit noch religiös aufgeladen. Im Streit der sichtbaren und unsichtbaren Mächte, die in ihm und um ihn herum wirken, ist er zutiefst besorgt, wie er sich Gott nähern und in seiner Nähe halten kann. Luther sucht nach dem gerechten Gott, dem er selbst gerecht werden kann, findet allerdings den rechtfertigenden Gott, dem kein Mensch gerecht ist – dem aber auch niemand gerecht werden muss, weil er selbst gerecht macht. In dieser reformulierten Verhältnisbestimmung von Transzendenz und Immanenz halten sich noch zahlreiche religiöse Interpretationsmuster, aber es ist erstaunlich, wie viel Christentum darin bereits verabschiedet und wie viel paulinischer Messianismus zurückgewonnen ist.

Calvins Reformation ist weniger von der Suche nach Rechtfertigung getrieben. Calvin ist konsequenter in der Auswertung des Gottesentzuges, der sich in den intellektuellen Bewegungen des späten Mittelalters ankündigt. Zunehmend besorgt sucht er daher nach dem sichtbaren Gott, und gerade darin ist er uns Modernen deutlich näher als Luther. Calvins gesamte Theologie, nicht zuletzt sein ausgeprägter Biblizismus, lässt sich begreifen als vehementer Versuch der Neubehauptung eines sichtbaren Gottes mitten in der weltwirklich anbrechenden „Gottesfinsternis“ (Martin Buber). Dabei geht es Calvin gar nicht so sehr um sich selbst. Wie Jesus, so schaut auch er sich um und sieht ein großes Volk, das ihm anvertraut zu sein scheint. Und es jammert ihn, weil er lauter Schafe wahrnimmt, die keinen Hirten haben (Mk 6,34). Der eigentlich eher zurückhaltende Calvin antwortet auf diese Wahrnehmung mit einem bedingungslosen pastoralen und politischen Engagement – vor allem in Genf, durch seine Korrespondenz aber auch in ganz Europa. Und er antwortet darauf durch die systematische Entfaltung evangelischen Glaubens in seinem Hauptwerk, der Institutio Christianae Religionis. Dieses Buch wird zum Schutzraum für viele, denen die aufgehende Moderne den sichtbaren Gott entzieht, die halt- und orientierungslos zu werden drohen in einer sich vergottlosenden Weltwirklichkeit.
Calvins Institutio ist mir selbst, in meinem eigenen Gang hinein in die Gottesfinsternis, einige Jahre ein wertvoller Schutzraum gewesen – bis sich mir auch dieses letzte als ob eines sichtbaren Gottes entzogen hat. Aus dieser Zeit sind mir zahlreiche calvinische Denkstrukturen geblieben. Vor allem aber ist mir die Hochachtung geblieben vor dem Mut, mit dem sich Menschen wie Calvin oder auch Luther ihrer Zeit stellen: Aufmerksam erkennen sie den Gang und den Stand der Ideen an. Kritisch reflektieren sie die theologischen, kirchlichen und politischen Konsequenzen. Und zweifellos ängstlich, aber doch beherzt stellen sie sich der Aufgabe, überkommene religiöse Interpretationen zu verabschieden und eine paradigmatische Neuformulierung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz zu wagen, die sich als intellektuell redlich, zugleich aber als existenziell und politisch relevant erweisen kann.
Gerade diesen Mut vermisse ich bei den Religiösen der Gegenwart – egal, ob sie nun in die fromme Parallelwelt oder in die Öffentlichkeit fliehen. Diese wie jene Flüchtlinge bleiben kompatibel mit der sie umgebenden Wirklichkeit und helfen nicht kritisch über sie hinaus. Dadurch sind sie nicht etwa Teil einer möglichen Lösung, sondern sie bleiben Teil des Problems. Die eine wie die andere Flucht der Religiösen ist nicht selten angstmotiviert. Die öffentlich Religiösen fürchten den Verlust von Anerkennung und Geltung. Bei den privat Religiösen beobachte ich dagegen vielfach die Angst vor dogmatischer oder moralischer Untreue. Doch wer seiner Zeit im reformatorischen Sinne dienlich sein will, muss beiden Ängsten den Kampf ansagen: Der Angst vor dem öffentlichen Ausschluss, aber auch der Angst davor, von dem bis dahin selbstverständlichen Gott und den mit ihm gegebenen Wahrheiten abzufallen.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen